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Halo Wars

Halo Wars

Wow. Ich erlebe gerade einen dieser seltenen und seltsamen Momente, in denen die Realität verwischt. In denen die Wirklichkeit dem Traum weicht und das Gestern stärker ist als das Heute. Gestern bin ich erst um 02:10 Uhr schlafen gegangen, nach vier Stunden Halo Wars. Es sollte nicht so spät werden, aber das Gefecht in der Blutschlucht war unerwartet spannend und langwierig.

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Ich als Captain Cutter, mein Gegner als Sergeant Forge. Zwischen uns nur sandige Wildnis. Eilig habe ich eine Festung gebaut, Einheiten trainiert, Panzer produziert und Flugzeuge entwickelt. Dann stürme ich los, den Gegner auszuräuchern. Meine Bomben erwischen ihn kalt: Vier Gefechtstürme zerschossen. Zwei Fahrzeugfabriken in Schutt und Asche gelegt. Einen Reaktor gesprengt und den Ressourcennachschub gekappt.

Widerstand: keiner. Jetzt nur noch den Haupttrakt auslöschen. Mit einem gezielten Schuss aus der MAB-Kanone kein Problem. Ein Blitz vom Himmel schmilzt den Stahl, doch seine Basis widersteht. Der Treffer reicht nicht. Dafür rollen plötzlich acht beunruhigende Panzer aus dem Schattenrand des Schlachtfeldes ins grelle Licht meiner Aufmerksamkeit. Sie ziehen am kärglichen Rest der Angriffstruppe vorbei in Richtung meiner Festung. Sie zu stoppen ist unmöglich. Ich habe keine Power mehr. Die rettenden Ressourcenpunkte sind verbraucht. Der Angriff war zu teuer. Binnen Minuten geht die Basis und mit ihr meine vermeintlich schlaue Strategie in Flammen auf. Im Headset: die höfliche Stimme meines Gegners aus Dänemark. "Good try my friend. Maybe next time." "Worauf du dich verlassen kannst", sage ich, denke kurz an eine sofortige Revanche, schleiche dann aber ins Bett - meine Ressourcen sind alle.

Ich habe unruhig und intensiv geträumt. Von Rettungsflügen und Raketenwerfern. Von schwindenden Energiebalken und Verfolgungsjagden mit feuersprühenden Infanterie-Einheiten. Von lilafarbenen Raumschiffen, gekapert von Spartanern. Davon, in all dem Chaos bloß nie das Missionsziel aus den Augen zu verlieren. Eine Nacht voller atemloser Stunden. Und jetzt, beim Frühstück, mein Blick ruht müde auf dem Toast mit Camembert und Erdbeermarmelade, schiebt sich dieser Traum plötzlich wieder vor mein geistiges Auge. Schnell einfangen. Schnell aufschreiben. Denn dieser Moment ist wichtig: Lange habe ich nicht mehr von oder wegen eines Videospiels geträumt. Respekt, Halo Wars. Und umso mehr Respekt, da Halo Wars kein fesselnder und nervenaufreibender Action-Shooter ist, sondern eines dieser eigentlich eher langweiligen Truppenrangierspiele.

Pompöse Echtzeitstrategiespiele beschäftigen Konsolenspieler nämlich in der Regel kaum. Sie werden entweder skeptisch beäugt oder gleich links liegen gelassen. Sie sind zu komplex, zu hektisch und viel zu unübersichtlich. So was zocken PC-Spieler auf LAN-Parties, aber niemand auf Xbox oder Playstation. "Real Time Strategy" war bislang ein reines PC-Genre, mit rasenden Mauszeigern und Tastaturbefehlsstakkato. RTS: das Hardcoregamer-Programm schlechthin, unsinnig für alle anderen. Genau das ändert Halo Wars, und zwar radikal.

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Halo Wars kommt aus den Ensemble Studios, die von Strategiefans seit mehr als einem Jahrzehnt verehrt werden - seit dort das erste Age of Empires erschaffen wurde. In den vergangenen drei Jahren durfte das Team auf Geheiß von Microsoft daran tüfteln, seine gesammelte Erfahrung in ein Konsolenspiel zu packen. Es ging dabei um kein bisschen weniger, als am heiligen Gral der Xbox-Actionfans herum zu doktern: Halo. Es galt, das Halo-Universum um ein RTS-Fragment zu erweitern, ohne den Mythos des perfekten Action-Shooters zu zerstören. Eine komplizierte Angelegenheit also, bei der Scheitern näher lag als Erfolg und bei dem man sich eher Feinde machen konnte als neue Freunde.

Bereits das erste Problem war eigentlich unüberwindbar: Wie soll ein Echtzeitstrategiespiel auf einer Konsole gesteuert werden? Wie reduziert man Komplexität, ohne Tiefe zu verlieren - und ohne dem Spieler ein ewig langes Tutorial vorzusetzen, das die Kommandos detailliert erklärt? Schließlich nerven die dem eigentlichen Vergnügen vorgeschalteten Lehrfilmchen in jedem Videospiel. Ensembles Lösung: In Halo Wars ist der Spuk nach zehn Minuten vorbei. Und umso erstaunlicher: Offenkundig ist danach alles Wesentliche erklärt. Die Funktionen des Spiels lassen sich mit sechs Buttons, den beiden Analogsticks und vier Richtungstasten auf dem Digi-Pad steuern. Keine Doppelbelegungen, kein Finger-Twist.

Okay, dann mal los. In 15 Missionen werden Ereignisse aus dem Jahr 2531 erzählt, die dem ersten Halo-Shooter vorgelagert sind. Historiker finden im Hauptmenü eine freispielbare Zeitleiste, die zusätzlich noch viele kleine Geheimnisse verrät. Das ist zwar nett, aber nur für Fans interessant. Die Story der schlichten, aber sauber erzählten Kampagne ist um ein mysteriöses Relikt gesponnen, dessen Kräfte nicht in den Besitz der außerirdischen Covenant geraten dürfen. Verhindern müssen das die Soldaten der UNSC (United Nations Space Command). Spielbar ist sie alleine oder im Coop-Modus. Die Missionen sind variantenreich, vor allem optisch: Von der Eroberung wichtiger Stellungen bis zur Verteidigung des eigenen Mutterschiffes wandelt Halo Wars zwischen knallbunter Sci-Fi-Pop-Art und gediegenen Naturdarstellungen hin und her. Untermalt von einem athmosphärisch dichten Soundtrack. Vor allem aber die Introsequenzen sind beeindruckend inszeniert und grafisch toll umgesetzt. So toll, dass das Spiel selbst manchmal ein wenig enttäuschend ist, weil man lieber das gerade gezeigte, epochale Action-Adventure weitergespielt hätte. Aber das geht natürlich nicht, und die Kampagne ist ohnehin als Prolog zu verstehen für das echte Spiel. Als Intensiv-Training für den wahren Kampf gegen echte Gegner über Xbox Live mit bis zu sechs Spielern in zwei Teams gegeneinander. Auf einer von 14 Gefechtskarten. Dafür wurde Halo Wars gemacht.

Die Schlachten folgen dabei immer einem oberflächlich schlichten Muster, egal ob in der Kampagne oder im Online-Gefecht. Anfangs steht der Anführer alleine auf dem Feld, flankiert von wenigen Einheiten. Mittels eines kleinen, blauen Kreis werden die Ziele markiert. Startpunkt aller folgenden Aktionen ist eine Basis, die mehrere Ausbaustufen hat: drei, fünf oder sieben Slots. Diese Slots werden per Knopdruck und anschließender Auswahl im übersichtlichen Kreismenü bebaut. Mit Kasernen, um Soldaten zu trainieren. Mit Depots, um Fahr- oder Flugzeuge zu bauen. Mit Reaktoren, deren Technik-Punkte es ermöglichen, alle Einheiten sukzessive in drei Stufen zu verbessern. Mit einem Rüstungsdepot, das spezielle Schutzupgrades freischaltet. Gebaute Versorgungsmodule produzieren fortwährend all jene Ressourcenpunkte, die man für alles im Spiel braucht: für Spezialaktionen der UNSC-Anführer, für den Kauf von Einheiten, für Fahrzeuge und Verbesserungen und natürlich für Bauvorhaben jeglicher Art.

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Spielt man Halo Wars im Online-Gefecht, sind die Seiten frei wählbar: Mensch oder Alien in je drei nur marginal unterschiedlichen Varianten. Wer als Covenant spielt, darf den eigenen Anführer als Bonus direkt im Feld zu steuern. Einmal angewählt und aktiviert, packt etwa der Covenant-Gebieter sein kräftiges Energieschwert aus, und wir steuern den Außerirdischen aktiv mit den beiden Sticks des Gamepads im Kampfgeschehen. Gefühlt bringt das zwar einen Vorteil, kann aber auch in den Untergang führen, weil in dieser Zeit der Aufbau neuer Truppen in der Basis nicht vorangetrieben werden kann. Die UNSC-Anführer sind flexibler und fordern per Knopfdruck Unterstützung aus dem Himmel an. Das Mutterschiff "Spirit of Hope" feuert dann aus dem Orbit mit einer Strahlenkanone, legt einen Bombenteppich oder stört die Spezialfähigkeiten der Covenant-Anführer. Die UNSC-Spezialeinheit der Spartaner kapert im Kampf feindliche Fahrzeuge, während die Covenant schnell ihre Truppenverbände durchs Level beamen dürfen. Welche Seite soll man nun wählen? Das ist eine sehr schwere Entscheidung, und hängt davon ab, ob man lieber etwas defensiver als Mensch oder offensiver als Alien agiert. Ohne es wissenschaftlich nachgeprüft zu haben: Alle Vor- und Nachteile der einzelnen Anführer scheinen sich einigermaßen aufzuheben.

In der Hitze des Gefechts fallen die Entscheidungen deutlich leichter. Was vor allem daran liegt, dass der Einsatz der mühsam produzierten Angrifftstruppe einem simplen Prinzip namens Schere, Stein, Papier folgt: Fahrzeuge schlagen Infanterie, Infanterie schlägt Fluggeräte, Fluggeräte schlagen Fahrzeuge. Die einzelnen Einheiten wie etwa UNSC-Marines oder Covenant-Grunts haben zwar auch ihre individuellen Stärken und Schwächen, aber diese fallen nicht so stark ins Gewicht wie bei herkömmlichen, komplexen Echtzeitstrategiespielen. Halo Wars will vereinfachen, darum kämpfen hier eher Klassen (also etwa Fahrzeuge) gegeneinander als einzelne Einheiten, die einer der Klassen untergeordnet sind. Eine lästige Stärken-Schwächen-Analyse aller Einheiten darf damit entfallen.

Die Spieltiefe leidet unter der Vereinfachung nicht, Halo Wars bleibt über lange Strecken spannend. Das simple Handling verhindert noch dazu das RTS-typische Dauer-Herumgeklicke. Auf diese perfekt konzipierte Steuerung kann Ensemble zu recht stolz sein. Denn durch sie wird Halo Wars kampfbetonter als alle Strategiespiele zuvor, was das Spiel für Action-Fans (und Strategie-Novizen) überhaupt erst interessant macht. Sie führt dazu, dass sich Halo Wars oftmals sogar anfühlt wie ein Action-Shooter oder -adventure. Nur die isometrische Vogelperspektive und das mit Truppen gefüllte Spielfeld erinnern dann an die Strategiewurzeln. Halo Wars fügt sich so nahtlos in das Halo-Universum ein. Ensemble Studios haben das eigentlich Unmögliche also wirklich geschafft - umso trauriger, dass das ihr letztes Werk war. Die Studios wurden Ende Januar von Microsoft geschlossen. Darauf eine Schweigeminute, dann frühstücke ich fertig. Danach vielleicht noch eine Tasse Earl Grey. Und dann hoffe ich doch sehr, dass Sergeant Forge aus Dänemark für eine Revanche zur Verfügung steht.

09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
Die Zugänglichkeit. „Halo Wars" versteht jeder in zehn Minuten ohne viel Vorwissen - und trotzdem leidet die Spieltiefe nicht!
-
Dass Halo Wars keine inhaltlichte Ergänzung des Halo-Universums bietet.
overall score
ist die Durchschnittswertung von Gamereactor. Wie hoch ist eure Wertung? Die Durchschnittwertung aller Gamereactor-Redaktionen wird aus den Wertungen in allen Ländern erhoben, in denen es lokalen Gamereactor-Redaktionen gibt

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