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"Repräsentation allein macht die Industrie nicht besser" - ein Gespräch über Non-Binarität mit den Entwicklern von No Longer Home

Die Entwickler des Spiels haben mit uns über ihre Kindheitserfahrungen, Geschlechter-Dysphorie und ihre Arbeit in der Branche gesprochen.

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Cel Davision und Hana Lee sind non-binäre Entwickler:innen des halb-autobiografischen Indie-Point-&-Click-Abenteuers No Longer Home, in dem wir die Coming-of-Age-Story von Bo und Ao erleben. Die Geschichte beschäftigt sich mit einer der letzten gemeinsamen Nächte der Beiden. Die Zwei haben gerade die Uni abgeschlossen und Ao muss wieder zurück ins verhasste Japan ziehen - dem Ort, der weder ihre/seine Gender-Identität akzeptiert, noch ihre Herkunft respektiert (sie/er wird dort auch noch aufgrund koreanischer Wurzeln diskriminiert).

Die Gründer:innen von Humble Grove Studio haben mit mir darüber gesprochen, wie es ist, non-binär zu sein und wie das in der japanischen und englischen Gesellschaft aufgenommen wird. Sie haben über ihre Kindheitserfahrungen, Gender-Dysphorie und ihre Arbeit in der Branche gesprochen.

GR: „No Longer Home ist die melancholische, schmerzhaft authentische Geschichte über eine Jugend, die vom System abgelehnt wird. Und es ist eine halb-autobiografische Geschichte. Was hat euch dazu bewogen und warum habt ihr die Erzählform eines Videospiels gewählt?"

Humble Grove: „Wir haben mit dem Projekt begonnen, um in Verbindung zu bleiben. Die halb-autobiografischen Aspekte kamen erst später, als wir uns entschieden hatten, die Reste der Wohnung ins Spiel zu übertragen. Wir wollten eine Geschichte über unsere Erinnerungen erzählen."

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Cel: „Mit unserem Illustratoren-Hintergrund ist unsere Arbeit oft irgendwie autobiografisch. Ich habe in meinem letzten Jahr an der Uni angefangen, in der Videospielindustrie zu arbeiten. Es wirkte wie der nächste, natürliche Schritt. Bei den einfachen Spielmechaniken werden sich die Leute fragen, warum [wir] nicht gleich einen Film oder lieber ein Buch [produziert haben], aber ich denke das Medium lässt uns fühlen; dass wir den Raum als Spieler wirklich besetzen. Und ich schreibe sehr gerne mehrfach verzweigte Dialoge. So kann man die vielen Facetten zeigen, die eine Figur sein kann [...]."

Hana: „Geht mir genauso. Ich habe viele autobiografische Comics gemacht, denn sie sind für mich die beste Möglichkeit, mich auszudrücken. Ein autobiografisches Spiel zu entwickeln hat mir geholfen, darüber nachzudenken, auf welche Aspekte von mir ich aufmerksam machen möchte."

"Repräsentation allein macht die Industrie nicht besser" - ein Gespräch über Non-Binarität mit den Entwicklern von No Longer Home

GR: „No Longer Home wird als queres, non-binäres Spiel über Beziehungen vermarktet. Ich muss zugeben, dass ich nur wenig vom non-binären Aspekt wahrgenommen habe. Es geht mehr um Traumata, den Stress durch erzwungene Immigration und dem Leben nach der Ausbildung. Könnt ihr mir mehr darüber erzählen? Was waren eure Ziele mit dem Spiel?"

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HG: „Unser Ziel war es, das Leben von non-binären Menschen zu normalisieren und [darzustellen,] wie sich unsere Probleme mit anderen Aspekten unserer Leben überschneiden. [Wir wollten] uns nicht nur allein auf das Non-binäre konzentrieren. Wir wollten uns nicht zur Blaupause machen, sondern uns als tatsächliche Menschen darstellen, ohne in Schubladen zu denken. Dass die Figuren non-binär sind, steht nicht im Mittelpunkt der Story. Es gibt Szenen, in denen Bo sich als etwas außerhalb der Gender-Binarität zeigt und Ao darüber spricht, dass er*sie nicht in Geschlechterrollen gezwungen werden will."

Cel: „Es war wichtig, dass wir durch unser Marketing klarstellen, dass Bo und Ao non-binär sind, damit ihnen nicht ein falsches Geschlecht zugeordnet wird. Da sie auf uns basieren - das könnt ihr sicher verstehen, wie wichtig uns das war."

Hana: „Ich habe das Gefühl, dass meine Identitäten sich ständig gegenseitig beeinflussen und nicht eine alles bestimmt. Sie sind untrennbar miteinander verbunden und über Gender zu sprechen, öffnet Türen, um auch über andere Aspekte unseres Lebens zu diskutieren."

GR: „Ihr kommt aus extrem unterschiedlichen Ecken der Welt, aber ihr kritisiert die binäre Struktur der Gesellschaft allgemein. Wie würdet ihr es beschreiben, in London und Japan aufzuwachsen? Versucht die Kindheit, Arbeitskultur und die Reaktionen der Gesellschaft auf eure Identität zu vergleichen."

Cel: „Ich denke es ist sehr schwer, meine Erfahrung mit der von Hana zu vergleichen. Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen - in Newham, einem der ärmsten Bezirke Londons. Ich wurde immer mehr in eine Gender-Rolle gepresst. Dann ging ich auf eine Kunstschule, um meine Klasse zu verraten (natürlich ein Scherz). Ich habe im letzten Jahr an der Uni angefangen, Videospiele zu entwickeln, weil mir klar wurde, dass das etwas ist, was die Leute machen. Ich habe Videospiele immer geliebt, also warum nicht selbst eines anfertigen? Ich habe mich immer gefühlt, als stünde ich am Rande der Videospielindustrie, aber mit No Longer Home, habe ich das Gefühl, ich kann mich als Teil von ihr bezeichnen. Die Industrie hat uns mit halbwegs offenen Armen empfangen, aber war nicht immer bereit, uns Raum zu geben. Diese Industrie hat viele Probleme, aber ich will das nicht alles an Gender-Themen festmachen. Bessere Rechte für die Angestellten würden sicher vieles verbessern."

Hana: „Gender ist seltsam wenn man in Japan aufwächst. Alles wird einem Geschlecht zugeordnet, egal ob Nahrung oder Kleidung oder die Art zu reden usw. Ich war auf einer reinen Mädchenschule und wurde wie ein 'Tomboy' behandelt, weil ich kein wirkliches Interesse an femininen Dingen hatte; was immer das sein mag. Wenn ich mich für diese Dinge interessiert habe, dann nur aufgrund der erzwungenen Cis-Normen und Heterosexualität. Als junges Kind, will man ja kein Außenseiter sein. Auf die Uni zu gehen und danach Spiele zu entwickeln, war sehr befreiend, denn die Leute in der Industrie haben mich nicht verurteilt. Klar, es gibt hier immer noch Probleme (nicht nur bezüglich Gender, sondern auch mit Arbeitsrechten, wie Cel erwähnt hat, und anderen Aspekten, wie der Herkunft), aber es war für mich eine weniger feindliche Umgebung, als in der Zeit, in der ich aufwuchs."

"Repräsentation allein macht die Industrie nicht besser" - ein Gespräch über Non-Binarität mit den Entwicklern von No Longer Home

GR: „Was versteht ihr unter non-binär? Es ist schließlich nicht einfach und die Leute haben ein unterschiedliches Verständnis. Wie ist das bei euch?"

Cel: „Ich denke non-binär wird am besten lose definiert, als etwas außerhalb der Gender-Binarität von Männern und Frauen. Für mich persönlich ist es nicht so leicht festzulegen und ich sehe auch keinen Grund dafür. Ich bin weder Mann noch Frau. Ich chille einfach..."

Hana: „Ich bin einfach ich, so einfach ist das. Genau wie Ao in No Longer Home sagt: 'Ich bin einfach ein normaler Mensch, der mag, was normale Menschen machen und das will ich in keine Schublade stecken'. Am Ende des Tages fühlt sich non-binär immer noch wie ein Label an und wenn ich diesen nicht Begriff bräuchte, dann wäre das klasse. Es ist sicherer diesen Begriff zu benutzen, um nicht in Geschlechterrollen gepresst zu werden."

GR: „Stimmt ihr der Aussage zu, dass die binäre Aufteilung in Geschlechter schädlich ist und stigmatisiert? Im Spiel ist Ao frustriert, weil wir allem ein Geschlecht zuordnen, jeder Aktivität, Hobby, Kleidung, Frisuren. Wie findet sich diese Binarität in einem Videospiel wieder? Brauchen Spiele Gender-Neutralität?"

HG: „Ich hätte gerne solche Optionen in Spielen, in denen wir uns selbst spielen, aber in anderen Spielen ist das nicht nötig, wenn der Protagonist vorgegeben ist. Trotzdem hätte ich gerne, dass NPCs das Spektrum stärker widerspiegeln und wenn es nur neutrale Pronomen sind. Wir hätten gerne, dass non-binäre Figuren eine Normalität und nicht einfach unbeholfen abgehandelt werden."

Cel: „Ich denke die Gender-Binarität kann sehr schädlich sein, aber ich will die Geschlechter sicher auch nicht abschaffen. Ich denke es wäre viel hilfreicher, wenn wir unsere Definition erweitern würden, was ein Mann oder eine Frau ist."

Hana: „Gender-Binarität in Spielen (oder anderen Medien) ist eine interessante Möglichkeit, die Kultur dahinter zu erforschen - und zwar die guten und schlechten Seiten. Das Problem dabei ist aber, dass diese Themen häufig nicht sorgfältig behandelt und auf Klischees reduziert werden."

GR: „Habt ihr jemals Gender-Dysphorie beim Spielen erlebt?"

HG: „Wir haben ein wenig Gender-Dysphorie, wenn wir uns bei der Charaktererstellung zwischen Mann und Frau entscheiden müssen, aber wir steigen schnell ins Rollenspiel einer Figur ein, die eben nicht wir sind."

Cel: „Die Sprache in Charaktereditoren erweitern oder verändern, wie etwa in Animal Crossing, wo wir einen Avatar von uns selbst spielen, wäre großartig. Abgesehen davon habe ich selbst nicht so ein großes Bedürfnis, mich mit dem Charakter zu identifizieren, den ich spiele, aus den gleichen Gründen, wie bei einem Buch oder Film."

Hana: „Mir gefällt, was Pokémon macht, wenn wir ein Geschlecht für den Protagonisten wählen. Die Pronomen des Spiels sind immer noch binär, aber sie fragen nach unserem „Style" und nicht, ob wir Junge oder Mädchen sind. Ich erwarte keine neutralen Pronomen, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung."

"Repräsentation allein macht die Industrie nicht besser" - ein Gespräch über Non-Binarität mit den Entwicklern von No Longer Home

GR: „Welche Spiele/Charaktere findet ihr besonders inspirierend? Sowohl im Leben, als auch bezüglich der Entwicklung von No Longer Home."

HG:Kentucky Route Zero (Cardboard Computer) und Curtain (Dreamfeel) waren definitiv unsere größten Videospielinspirationen."

Cel: „No Longer Home zeigt deutliche Einflüsse von Kentucky Route Zero. Das ist sowohl visuell, als auch bei der Story sehr offensichtlich. Wir wollten, dass die Dialogoptionen vom Bedürfnis auf Einflussnahme angetrieben werden und nicht vom Wunsch nach der optimalen Wahl, um das Spiel zu 'gewinnen'. Ich finde Charaktere generell keine allzu große Inspiration. Es geht mehr um die Situation, in der sie sich befinden oder was ihre Geschichten über die Gesellschaft sagen, in der wir leben."

Hana: „Wir haben uns auch von Filmen und Büchern inspirieren lassen, nicht nur von Spielen. Wir haben viel darüber gesprochen, was wir an Filmen mögen und wie wir das in No Longer Home umsetzen könnten."

GR: „Wovon würdet ihr in der Spieleindustrie gerne mehr sehen, was Repräsentation und Normativität anbelangt?"

HG: „Wir wollen mehr Minderheiten in der Videospielindustrie sehen. Wenn sich Spiele mit unterrepräsentierten Themen und Charaktere beschäftigen, dann sollten diese Erfahrungen vielleicht besser aus erster Hand stammen."

Cel: „Repräsentation alleine macht die Industrie nicht besser. Wir brauchen Angestellte mit mehr Rechten. Dann werden diversere Geschichten sicher folgen."

Hana: „Ich kann mich da Cels Antwort nur anschließen. Ich denke, es ist so ähnlich wie bei den Oscars und dem Versuch, die Filme diverser zu machen. Ich denke Diversität ist wichtig, aber das alleine wird nicht die Bigotterie dieser Industrie ändern. Wir müssen erst am Fundament rütteln, bevor wir uns mit der Oberfläche beschäftigen."

GR: „Was sind eure Pläne für die Zukunft?"

Hana: „Da sind wir uns noch nicht sicher, aber haben schon vage darüber gesprochen, ein Horrorspiel zu produzieren, das auch auf unseren Erfahrungen basiert. Nichts actionlastiges und mit dem gleichen Schwerpunkt auf der Geschichte - so wie bei No Longer Home."

"Repräsentation allein macht die Industrie nicht besser" - ein Gespräch über Non-Binarität mit den Entwicklern von No Longer Home

No Longer Home ist für PC via Epic Games Store, GOG, Humble Store und Steam erhältlich.



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