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Life is Strange: True Colors

Life is Strange: True Colors

Deck Nine Games hat die Grundlagen von Life is Strange neu geschrieben und damit ein Highlight der Serie geschaffen.

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Das Leben ist seltsam. Man wacht auf, lernt aus den eigenen Fehlern, entdeckt ungeahnte Talente und plötzlich ist man erwachsen. So ergeht es jedem von uns, auf unserer eigenen, komplizierten Reise von der Jugend ins Erwachsensein. Und das gilt auch für Life is Strange: True Colors, dem neusten Kapitel aus der populären Videospielreihe, das früher einmal im Episodenformat veröffentlicht wurde. An diesem Spiel arbeiten Deck Nine Games, die Entwickler hinter der Indie-Perle Life is Strange: Before the Storm (einem Spin-Off des ursprünglichen Life is Strange) schon ein paar Jahre lang.

True Colors ist nicht nur das neuste Kapitel der Serie, das mit eigenen Figuren, einer unabhängigen Story und einem frischen Satz an übernatürlichen Kräften daherkommt. Der dritte Teil (der vierte, wenn ihr Before the Storm mitzählen wollt) ist auch ein wichtiger Schritt ins Erwachsensein der gesamten Saga. Zum einen aufgrund der offensichtlichen technischen und grafischen Verbesserungen, die sich ja schon in den ersten Trailern deutlich zeigten. Zum anderen auch dank der Art und Weise, wie Deck Nine Games diese Geschichte mit interessanten, neuen Spielmechaniken erzählt. Doch kann True Colors auch dem übermächtigen Original das Wasser reichen, mit dem alles begann?

Emotionen geben dem Leben seine Farbe, egal ob positiv oder negativ. Genau das ist das große Thema von True Colors, was sich insbesondere in den übernatürlichen Kräften von Alex Chen widerspiegelt, der Protagonistin dieses Spiels. Alex kann die Aura anderer Personen wahrnehmen, sie fühlt ihre Emotionen im wahrsten Sinne des Wortes und sie kann diese Gefühle sogar irgendwie manipulieren. Gleichzeitig muss unsere junge Heldin, wie jeder junger Erwachsene, zuerst lernen, mit dieser Kraft umzugehen. Wir sind hier weit entfernt von den Teenagerproblemen, die Chloe, Max und Rachel im ersten Kapitel umhertrieben. Ein wenig Teenie-Drama ist geblieben, aber True Colors beschäftigt sich mit erwachseneren Themen, wie der außergewöhnlichen Fähigkeit Verzeihen zu können - nicht nur Anderen, sondern auch sich selbst.

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Die Erkundung von Haven Springs bietet leider nicht die Offenheit oder Erfüllung, die wir erwartet haben.

Wir übernehmen die Rolle von Alex Chen, einer jungen Rebellin, die gerade einem komplexen Adoptionssystem entwachsen und nun bereit ist, ein neues Leben zu beginnen. Sie versucht ihr Glück an einem Ort, an dem sie niemand kennt und an dem niemand weiß, was sie getan hat und warum Emotionen ein so wichtiger, fast schon überwältigender Teil ihres Lebens sind. Dafür hat Alex Haven Springs gewählt, eine fiktionale Stadt in Colorado, in der ihr älterer Bruder Gabe lebt, den sie seit ein paar Jahren aus den Augen verloren hat. Gabe hat sich hier ein neues Leben aufgebaut, nachdem er einige Zeit lang in einer Jugendstrafanstalt verbringen musste.

Dieser magische Schauplatz, umgeben von Bergen und einer fast schon traumartigen Atmosphäre, ist genau richtig für einen Neuanfang. Alex hat eine neue Wohnung, neue Freunde, einen Job und sie ist endlich wieder mit ihrem Bruder vereint. Was soll da schon schiefgehen? Die Idylle findet mit dem Unfalltod ihres geliebten Bruders sehr schnell ein jähes Ende. Das schreckliche Ereignis versetzt die verschlafene Kleinstadt in Aufruhr und Alex ist am Boden zerstört. Alex vermutet, dass es womöglich gar kein tragischer Unfall war und deshalb versucht sie der Sache mit ihren neuen Freunden (Steph und Ryan) auf den Grund zu gehen. Mithilfe ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, Emotionen lesen zu können, sucht Alex nach Antworten.

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Um eines gleich klarzustellen: Deck Nine Games haben wieder genau den richtigen Ton getroffen. Der Krimi-Plot dient nur als erzählerischer Kontext, der vom eigentlichen Fokus ablenken soll, er ist aber gleichzeitig auch sehr spannend. In True Colors wird euch sicher nicht langweilig und das auch, weil die Darsteller die charismatischen Charaktere mit ihren Stimmen toll in Szene setzen. Das fängt mit Alex an - gesprochen von Erika Mori - die dieser eher anonymen Figur viel Persönlichkeit gibt und uns gleichzeitig mit jeder Episode mehr verwirrt.

Es ist fast unmöglich, sich nicht in Alex zu verlieben und das Gleiche gilt auch für die charismatische Steph und den liebenswerten Ryan (und einige andere unterstützende Charaktere, die ihr aber besser selbst entdecken sollt). True Colors nimmt uns emotional genauso mit auf eine Reise, wie es den vorherigen Kapiteln der Reihe gelungen ist. Darüber hinaus hat Deck Nine Games Änderungen eingeführt, die den Fans (und ihrer konstruktiven Kritik) zeigen sollen, dass die mittlerweile etwas altbackene Formel noch immer aufgefrischt werden kann.

Der erste große Unterschied, der True Colors von seinen Vorgängern abgrenzt, ist die zentrale Erzählstruktur. Obwohl das Spiel eine Unterteilung in Kapitel beibehält, verliert es vollständig die Spannung, die man zwischen mehreren Episoden erwartet. Es gibt keine Cliffhanger mehr am Ende der aktuellen Folge und man zermürbt sich beim Warten auf die nächste Ausgabe - die meist erst nach Monaten veröffentlicht wurde - auch nicht länger den Kopf. Genau wie die TV-Serien, von denen das Game offensichtlich inspiriert wurde (die in den letzten Jahren ihrerseits eine große Veränderung in Bezug auf Erzählung und Format-Gimmicks erfahren haben), wird True Colors in der kompletten Länge veröffentlicht und verliert damit etwas, das die Marke Life is Strange seit jeher auszeichnete.

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Dontnod hat dieses Universum geschaffen, doch Deck Nine Games hilft Life is Strange dabei, erwachsen zu werden.

Wir können die gesamte Staffel nun also am Stück spielen, wie eine Serienproduktion auf Netflix. Dem Spieler bleibt natürlich freie Hand, denn wir können nun selbst entscheiden, welche und wie viele Kapitel wir spielen möchten. Jede Episode beschäftigt so zwischen zwei bis drei Stunden, abhängig von eurem eigenen Fortschrittstempo. Ich persönlich mag diese Lösung nicht sonderlich, da sie etwas verzerrt, was es dem Life-is-Strange-Franchise bisher ermöglichte, sich von anderen Videospielproduktionen zu unterscheiden. Dass man nicht lange warten muss, ist sicherlich eine schöne Entwicklung, doch dem Spiel geht dadurch meiner Meinung nach auch etwas verloren.

Eine zweite Neuerung auf spielerischer Seite ist die Erkundung, denn wir erhalten in Life is Strange: True Colors die Chance, die kleine Stadt Haven Springs selbstständig zu entdecken. Als das Spiel zum ersten Mal angekündigt wurde, sagte Deck Nine Games, dass sie den Spielern auf diese Weise mehr Freiheit geben wollten. Durch die Stadt zu laufen, dabei Geheimnisse und neue Gespräche aufzudecken und somit tiefer in die Hintergrundgeschichten der Charaktere und des Ortes Haven Springs einzutauchen, das ist eine schöne Idee, die am Ende leider nicht ganz aufgeht. Das Ergebnis ist nicht zufriedenstellend, da die Exploration letztlich nur wenig Abwechslung mit sich bringt. Man kann die schönen Umgebungen erkunden, an kleinen Schatzsuchen teilnehmen und Alex' Kräfte trainieren - mehr Möglichkeiten haben wir nicht. Für mich würde das kein Grund sein, das Game noch einmal zu starten - ganz im Gegensatz zu den Entscheidungsmechaniken, die nach wie vor eine Konstante sind.

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Eigentlich hört unsere „Kritik" an dieser Stelle auf, denn Life is Strange: True Colors ist ein unglaubliches Spiel. Optisch ist die Stadt Haven Springs detailreich gestaltet worden, mit einem sorgfältig durchdachten Einsatz von Lichteffekten. Man hat beim Erkunden nie das Gefühl, eine flache Welt vor sich zu haben, sondern etwas Lebendiges und Pulsierendes, durch das man sich bewegen kann. Das ist auch einigen interessanten neuen Features zu verdanken, beginnend mit kleinen, völlig optionalen Sekundärmissionen (in Form von Dialogen), die es uns ermöglichen, Alex' Interaktionen zu einigen NPCs auszubauen. Auf diese Weise könnt ihr eine persönlichere Beziehung zu dieser Welt und ihren Charakteren entwickeln, was ich nur wärmstens empfehlen möchte. Apropos neue und originelle Ideen: Behaltet das dritte Kapitel im Auge, das dank seiner Metatextualität wahrscheinlich die lustigste und innovativste Episode ist, die diese Reihe bisher hervorgebracht hat. Aber ich sage lieber nichts weiter dazu, um nicht noch mehr vorwegzunehmen.

Neben vielen anderen kleinen Leckereien, wie zum Beispiel Arcade-Automaten, in denen einige Hit-and-Run-Spiele, wie Arkanoid oder Mine Haunt (ein 8-Bit-Minispiel, das speziell von Deck Nine entwickelt wurde), auf uns warten, bleibt das wahre Herz von Life is Strange: True Colors natürlich die zentrale Handlung. Im Vergleich zu früheren Erfahrungen lässt True Colors den Entscheidungen, die wir im Spiel treffen, ein anderes Gewicht zukommen, da Konsequenzen mehr Tiefe erhalten. Das System der binären Entscheidungen verschließt sich einem entschieden strukturierteren und vielschichtigeren Mechanismus, der zu mehr Enden führt, doch die Änderung sorgt auf der anderen Seite dafür, dass die Geschichte flüssiger, kohärenter und viel persönlicher wird, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Das ist letztlich auch der Bereich, in dem wir das wahre Wachstum der Life-is-Strange-Serie erkennen: Sie ist zu einem ausgereiften Produkt herangewachsen, das sich den Grenzen der eigenen Vergangenheit bewusst geworden ist. Um zu einem besseren Erlebnis zu werden, musste das Format aus den eigenen Fehlern lernen und deshalb geben uns viele Entscheidungen, die wir als Alex treffen müssen, das Gefühl, für die Erzählung von Bedeutung zu sein. Genau wie Alex, die die Fähigkeit hat, Emotionen zu kontrollieren, erleben wir das Gefühl der Allmacht und glauben, die Stimmung des Spiels tatsächlich beherrschen zu können. Dadurch tauchen wir in ein Spielerlebnis ein, das früher in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.

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Ich vermisse die Episodenstruktur ein wenig, doch dafür mag ich die Art und Weise, wie sich Entscheidungen neuerdings auf den Spielverlauf auswirken, umso mehr.

Die Musik ist immer noch der emotionale Kern der Life-is-Strange-Reihe, denn in True Colors nimmt der Soundtrack einen geradezu essentiellen Stellenwert ein. Das ist unter anderem so, weil Alex selbst eine enge Beziehung zur Musik pflegt - tatsächlich können wir dank der Sprecherleistung von Mxmtoon auch ein paar köstliche Neuinterpretationen von Creep (Radiohead) oder Blister in the Sun (Violent Femmes) genießen - und weil die Musik den Rhythmus und den Fluss der Geschichte diktiert, ohne jemals aufdringlich zu sein. Neben einigen der breiten Öffentlichkeit bekannten Pop/Rock-Hits ist der von Angus & Julia Stone signierte Soundtrack wohl einer der intensivsten und am besten kuratierten Beispiele der gesamten Serie. Das Gesamtergebnis steht der musikalischen Erfahrung von Syd Matters oder Daughter in nichts nach. Nehmt zum Beispiel die Zen-Momente, also diese kurzen Augenblicke, in denen der Charakter entscheiden muss, welche Entscheidungen getroffen werden sollen: Dieses Aufatmen ist auch in diesem Spiel ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte und die Musik in diesen Sequenzen bleibt ein wesentliches, katalysierendes Element.

Life is Strange: True Colors mag ich insgesamt wirklich sehr. Während Deck Nine Games einige der Grundlagen des Franchise umschrieb und dabei die ursprünglichen Absichten etwas umkehrte, produzierte das Studio wahrscheinlich das bis dato zweitbeste Life is Strange der kompletten Serie. Neben einer ausgereifteren Geschichte, die sich nicht zuletzt in einem bewussteren Umgang mit dem Entscheidungssystem äußert, sind die Charaktere mit einer entwaffnenden Perfektion geschrieben, weshalb es unmöglich scheint, sich nicht intensiver mit ihnen beschäftigen zu wollen und dabei noch tiefer in die Geschichte hineingezogen zu werden. Der perfekte Einsatz von Musik, kombiniert mit einigen genialen metatextuellen Lösungen in Bezug auf das Gameplay, machen Life is Strange: True Colors zu Recht zu einem der besten Kapitel der Serie. Also warum lest ihr diesen Artikel noch immer, anstatt zu spielen?

09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
erwachsenere und fesselndere Geschichte, gut geschriebene Charaktere, hervorragende Leistungen der Synchronsprecher, außergewöhnlicher Soundtrack, einige brillante Ideen in Bezug auf das Gameplay.
-
Schade, dass das Format seine serielle Erzählstruktur verloren hat. Exploration ist unterentwickelt, ein paar kleine Bugs gibt es.
overall score
ist die Durchschnittswertung von Gamereactor. Wie hoch ist eure Wertung? Die Durchschnittwertung aller Gamereactor-Redaktionen wird aus den Wertungen in allen Ländern erhoben, in denen es lokalen Gamereactor-Redaktionen gibt

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