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Infamous

Infamous

Empire City sucht verzweifelt nach einem Superhelden. Wer wäre besser geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen und eine kränkliche Metropole zu retten, als unser Mann Thomas Blichfeldt?

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Ich weiß nicht mehr, wie oft in meinem Leben ich vorgetäuscht habe, Spider-Man, Superman, Hulk oder Wolverine in einem Videospiel zu sein. Ich weiß aber ganz genau, wie oft ich mich in einem Videogame wie ein echter Superheld gefühlt habe: kein einziges Mal! Ich habe riesige Städte in Sekunden durchquert. Habe mehrere tausend Tonnen schwere Gebäude gehoben. Habe Feinde zerrissen mit bloßen Händen. Aber die Zuneigung und das Einfühlen in einen Helden, dieses essenzielle Gefühl eines Comics, das hat noch kein Videospiel für mich eingefangen. Anders gesagt: Superhelden wurden bisher stets in seelenlose Videogamehelden verwandelt.

Mitten in einem brennenden Inferno wurde Protagonist Cole bewusstlos geschlagen und findet sich auf dem letzten verbliebenen Stück Beton wieder. Keine Idee, was gerade geschehen ist, während wir die ersten Schritte in der zerstörten Welt von Empire City wagen. Aber nicht nur die Stadt ist plötzlich eine andere. Als Cole von einem kaputten Stromkabel getroffen wird, stirbt sein altes Leben. Und ein neues beginnt.

Dadurch, dass Entwickler Sucker Punch den armen Cole in einen menschlichen Dynamo verwandelt hat, haben sie nicht nur ihre eigene Version der wohl bekanntesten Superhelden-Ursprungsgeschichte geschaffen, sondern auch tiefe Persönlichkeit mit einzigartigen Fähigkeiten kreiert. Die durch den Unfall gerade erst erhaltenen Superkräfte werden schnell nützlich. Empire City ist offenbar Opfer eines Terrorangriffs geworden und darum unter Quarantäne gestellt. Dadurch ist die Verbrechensrate explodiert, und der Begriff Polizei schlagartig zum Fremdwort mutiert. Der schlechteste Part dieser Entwicklung: Durch den schlagartigen Anstieg der Armut haben es sich gleich mehrere Kulte zur Aufgabe gemacht, die Macht in der Stadt mit einer Mischung aus Gehirnwäsche und biologische Experimente zu übernehmen.

Wer vor Infamous bereits das Leben als virtueller Superhelden erprobt hat, sortiert solche Aktionen als Alltagsgeschäft ein. Genau darum zieht uns Sucker Punch nach kurzer Einspielzeit meisterhaft wieder den Boden unter den Füßen weg. Cole wird ganz am Anfang zum Helden, erntet Anerkennung der Bürger von Empire City. Als Spieler bekommen wir so einen kleinen Happen jener Anbetung, die sich als hochgradig suchterzeugend sogar in einem Videospiel erweist. Nur um das alles dann im Bruchteil einer Sekunde wieder implodieren zu lassen. Cole sieht seine ganze schöne neue Welt verschrumpeln. Die Anbetung der Bevölkerung schlägt in blanken Hass um. Das Vertrauen des besten Freundes in Misstrauen. Und die Liebe von Trish in völlige Ablehnung.

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Mit diesem Ärger im Gepäck werden wir auf die Stadt losgelassen, in ein graues aber pulsierendes Ragnarok, für das Cole der ultimative Problemlöser zu seien scheint. Wohin die Reise nun geht, bleibt ganz uns überlassen. Frühere Erfahrung mit Parkour und eine schier endlose Schmerzgrenze sprengen alle Grenzen. Cole fliegt von einem Gebäude zum nächsten und bleibt an allem hängen, was die Stadt zu bieten hat.

Die verfügbaren Superkräfte sind vorerst limitiert. Außer einem spärlichen Elektroblitz muss erstmal das Herumschleudern von Gegnern oder kleineren Gegenständen zum Angriff und zur Verteidigung ausreichen. Alle Spezialfähigkeiten ziehen dabei Energie aus Coles' interner Batterie. Sein Energiehaushalt lässt sich durch einen kleinen Fingersprint auf der L2-Taste in der Nähe einer Energiequelle ausgleichen. Da steht er nun, der Held unter der Straßenlaterne und lädt.

Das Repertoire an Fähigkeiten wird permanent durch Erfahrungspunkte erweitert, die wir erspielen, während wir der Stadt und ihren Bürgern bei der Lösung der zahlreichen Probleme helfen. Abhängig davon, wie entscheiden wird die Missionen zu lösen, wird das Karma von Cole verändert. Gut oder Böse entscheidet dabei über die Ausprägung einiger der coolsten Spezialkräfte im Game, und beeinflusst zudem die äußere Erscheinung des Helden und wie die Welt mit ihm interagiert.

Missionen starten auf mehrere Arten, meistens allerdings durch in Not geratene Bürger von Empire City. Die Probleme der Bevölkerung sind in der Regel mit Entführungen oder tödlichen Bedrohungen verknüpft. Wenn das bedrohte Areal befreit ist, erscheint es auf der Karte als beruhigte Zone. Jede Befreiung trägt zur Verbesserung der Reputation von Cole in Empire City bei. Um die Hauptmissionen zu absolvieren, müssen wir auf Anweisungen unserer Kontaktfrau Moya warten. Nur die Geheimagentin besitzt die Macht, Coles' Namen reinzuwaschen. Sie hat aber auch ein verborgenes, eigenes Interesse am Schicksal der Stadt.

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Die Welt von Infamous dehnt sich über drei Inseln aus. Sucker Punch hat versucht, an jeder Ecke kleine Aufgaben einzubauen. Bereits nach wenigen Minuten sucht man artig nach "Blast Shards", nahe Verwandte der aus Crackdown bekannten "Agility Orbs". Diese dahinter verborgenen Mini-Missionen folgen einem immer gleichen Schema. Es gilt wieder und wieder Entführungsopfer zu befreien, Spionage-Equipment zu deinstallieren oder Gebäude zu schützen. Diese Missionen variieren zwar in ihrer inneren Vielfalt ein bisschen, sind aber nie annähernd so aufregend wie die Hauptmissionen, die die Story vorantreiben.

Es wäre leicht gewesen, diesen Text hier und jetzt zu beenden. Mit dem Fazit, dass es Sucker Punch gelungen ist, durch einen intensiven Blick auf alle verfügbaren Superhelden-Games deren Nachteile zu sondieren, auszumerzen und mit Infamous ein eigenes, solides Superheldenepos abzuliefern. Aber warum? Wo Infamous doch so viel mehr kann!

Was Infamous sofort positiv von der gesamten Superhelden-Konkurrenz abgrenzt, ist die Art wie sich Sucker Punch nicht eine Sekunde lang darum kümmert, Cole in einer vorgefertigten Persönlichkeitsstruktur zu halten. Die Entscheidung über die Wesensentwicklung des Superhelden ist dem Spieler überlassen. So muss es sein. Bereits während der ersten Stunden des Spiels wird dabei die ultimative Frage gestellt: Warum sollten wir uns die Mühe machen, einer Stadt zu helfen, die nichts als Geringschätzung für uns übrig hat? Geschickterweise tut Sucker Punch absolut nichts dafür, uns auf die gute Seite der Macht zu locken. Keine Regenbogen, keine Lollis, nichts. Es ist das erste Mal, dass die ewige Geschichte der Zerrissenheit eines Superhelden so intensiv als Videospiel erlebbar ist.

Das komplizierte Struktur verschiedener Handlungsstränge wird in Infamous meisterhaft zu einer großen Story verwoben. In bester Comictradition hat jeder Charakter eigene Geheimnisse, die nach und nach offenbart werden. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist grandios. So machen interessanterweise auch die Medien und ihre Berichterstattung über die Vorgänge in Empire City einen spannenden Teil der Story aus. Cole lernt schnell, dass kein noch so mächtiger Superheld etwas gegen ein Megaphon ausrichten kann, so es denn nur laut genug brüllt. Besonders schön gelungen ist jener Teil der Hauptgeschichte, der sich mit dem Neid von Coles' bestem Freund auf seine Superkräfte beschäftigt.

Am absolut besten ist allerdings das Pacing von Infamous - das Fortschreiben der Story ist vom Anfang bis zum Ende nahezu perfekt. Crackdown gab und sofort die Freiheit in der gesamten Spielwelt, aber zeigte dadurch auch binnen weniger Stunden alles. Sucker Punch hat es geschafft, uns das Gefühl zu vermitteln, eben noch eine kleine Mission zu spielen. Und noch eine. Immer wenn man denkt, Cole sei ein bisschen zu schwach für die Gegner, gibt es neue Superkräfte: Fliegen im richtigen Augenblick, ein Zoom-Modus oder raketenartige Elektroblitze mit dem fantastischen Namen "Megawatt-Hammer". Dennoch nimmt sich der Entwickler Zeit zu zeigen, wie zerbrechlich Cole in Wirklichkeit ist - etwa in jener Mission, wo das Stromnetz der Stadt kurzgeschlossen wird und der menschliche Dynamo in Sekunden vom Superhelden zum Durchschnittstypen wird.

Weil Infamous so viele Dinge fast perfekt macht, fällt es leicht, kleinen Fehler zu vergessen, die natürlich noch immer vorhanden sind. Die Missionen wiederholen sich häufig, und der Steuerung scheint es manchmal ein bisschen an Finesse zu mangeln. Cole bleibt zudem automatisch an jeder Oberfläche in Empire City kleben, was vor allem anfangs den Spaß des Durchstreifens eines Beton-Dschungels nimmt, bevor sich das Repertoire der Superkräfte später voll entfaltet.

Die Kritik an Infamous ist nichtsdestotrotz minimal. Es ist kaum möglich, Infamous nicht als einen der besten Gründe zu empfehlen, eine Playstation 3 sowie das beste Superhelden-Game zu kaufen. Infamous erzählt eine fantastische Geschichte, der es ohne Umschweife gelingt, mehrere Handlungsstränge zu verweben und Charaktere einzuführen, die mehr sind als nur ödes Hintergrundrauschen. Dazu dauerhaft coole Actionsequenzen, die im Spielverlauf immer besser werden. Mit anderen Worten: Zocken in allerbester Reinkultur!

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09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
Tolle Geschichte. Intensive und ausschweifende Action. Riesige Spielwelt zum Erkunden. Wunderbares Voice-Acting.
-
Die Missionen sind zu gleichförmig.
overall score
ist die Durchschnittswertung von Gamereactor. Wie hoch ist eure Wertung? Die Durchschnittwertung aller Gamereactor-Redaktionen wird aus den Wertungen in allen Ländern erhoben, in denen es lokalen Gamereactor-Redaktionen gibt

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