Wer sich etwa dafür entscheidet, aus der Egoperspektive heraus allen Aufträgen und Nebenmissionen zu folgen, der wird dafür mit mehr Spielzeit und zusätzlichen Items belohnt. Als Geiselbefreier etwa kriegt man später im Spiel nicht nur die Hilfe eines Nebencharakters, sondern auch die von einem geläuterten Gangster. Das hat nichts mit dem eigentlichen Fortgang des Spiels zu tun. Aber es zeigt, wie viele mögliche Handlungsstränge sich zu einem ganz persönlichen Deus Ex: Human Revolution verweben lassen. Es sind sehr viele Handlungsstränge.
Auch das Spiel selbst legt sich niemals fest. Es lässt einem immer die Wahl, wie man es spielt. Das Gameplay wechselt nahtlos vom Stealth- zum In-your-Face-Action-Shooter und mixt das Erlebnis wahlweise mit Rollenspielelementen wie Aufleveln und langen Gesprächen. Deus Ex: Human Revolution gelingt dieser Spagat leichtgängig wie kaum einem anderen Spiel. Vergleiche zur Mass Effect-Serie drängen sich auf, Borderlands fällt einem ein, aber auch Alpha Protocol. Aber Vergleiche bringen uns nicht weiter, denn Eidos Montreal ist etwas ganz eigenes gelungen. Unter anderem auch ein Action-Spiel, das sich relativ gewaltfrei beenden lässt - wenn man es denn so will.
Jede Passage in Deus Ex: Human Revolution offeriert uns viele verschieden Arten, sie zu erledigen. Völlig lautlos etwa, mit Betäubungspfeilen im Snipergewehr und fiesen Schleichattacken von hinten. Oder alternativ mit der Shooter-Brechstange und der Feuerkraft einer gepimpten Schrotflinte, begleitet von Wände durchschlagenden Argumenten der augmentierten Fäuste. Augmentation sind künstliche Verbesserungen für Menschen, unser Held Adam Jensen trägt unfreiwillig so einige davon in sich.
Für alle Arten, die Haupt- und diversen optionalen Nebenaufgaben einer Mission zu klären, gibt's Erfahrungspunkte. Wer eine Passage ohne jemanden zu töten absolviert, bekommt Extrapunkte, ebenso wie für gezielte Kopfschüsse oder besonders intensives Schnüffeln in fremden Dateien. Mit diesen Erfahrungspunkten wiederum werden Praxis-Punkte freigeschaltet, für die sich Adam neue Augmentierungen kauft, nützliche Erweiterungen für seinen bionisch modifizierten Körper: acht am Kopf, vier am Rumpf, je zwei an den Armen, am Rücken, den Augen sowie der Haut und eine an den Beinen. Sie sind in bis zu acht Stufen ausbaubar, alles parallel Aufzuleveln ist unmöglich. Am Kopf etwa finden sich der Radar, ein Wegfinder und auch die Stealth- oder Hacker-Fähigkeiten werden hier gesteuert. Wer intensiv sucht, findet die Praxis-Punkte auch einfach so im Spiel oder bekommt für besonders gut gelöste Aufgaben extra welche geschenkt. Die Kräfte der Augmentierungen sind nicht dauerhaft verfügbar, sie müssen durch Nährstoffzufuhr aufgeladen werden.
Die individuelle Wahl der Augmentierungen sorgt in großem Maße für das Spielerlebnis. Computersysteme hacken in einem ewig lustigen Minispiel ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch nützlich, um Überwachungskameras und stationäre Maschinengewehre zu manipulieren oder Safes und Mail-Accounts zu knacken. Oder man spezialisiert sich auf soziale Fähigkeiten, um Schlüsselfiguren zum Reden und richtigen Handeln zu bringen. Dazwischen gibt es 1000 Nuancen und Möglichkeiten, alles von Gewalt bis Ghandi ist möglich.
Deus Ex: Human Revolution spielt sich durch die Kombination aus Augmentierungen und Entscheidungen im Zweifel für zwei unterschiedliche Spielern relativ stark unterschiedlich. Das drückt sich auch darin aus, dass Gespräche mit den vielen vom Programm gesteuerten Spielern einfach ignoriert werden können. Zusätzlicher Hintergrund zur Story kann, muss aber nicht. Diese Formel gilt ohnehin an vielen Stellen. Wer schleichen will, muss langsam und geduckt gehen, um Lärm zu vermeiden. Dazu dann Sichtverbindungen zum Gegner vermeiden. Oder einfach drauf pfeifen und das Spiel zum straighten Egoshooter machen. Die Wahl liegt bei jedem selbst.
Per Knopfdruck werden nahe der Gegner automatisch Spezialattacken absolviert, die ihn entweder betäuben oder töten. In beiden Fällen wird eine zufällig ausgewählte, kleine Zwischensequenz angezeigt. Schleichen wir uns von hinten an, tippen wir dem Gegner auf die Schulter und der kriegt beim Umdrehen unerwartete Faustpost ins Gesicht. Leider kommt diese Animation auch, wenn der Gegner bereits durch den Effekt einer Schockgranate am Boden liegt und gerade wieder benommen aufstehen will. Will sagen: An solchen Stellen ist das Spiel ähnlich komplett unpräzise und neben der Spur wie die Lippensynchronität an fast allen Stellen - jedenfalls, wenn man die sonst durchaus gelungene deutsche Sprachausgabe benutzt.
Auch sonst hat das Spiel so seine Tücken. Weil die Spielwelt viele Freiheiten bietet, sind an anderen Ecken deutliche Abstriche gemacht worden. Es gibt quasi keine Physikelemente. In oberflächlich wunderbar stimmig gestalteten Labors zersplittert kein Erlenmeyerkolben, nirgendwo platzt die Deckung weg, wenn man vom Gegner in die Klemme genommen wird. Die Spielwelt ist an diesen Punkten komplett tot. Aber es ist schon klar, dass einfach nicht alles auf einmal geht. Schade ist es zudem, dass man häufig lange Wege durch diese toten Level in Kauf nehmen muss.
Die Künstliche Intelligenz agiert die meiste Zeit eher bescheiden. Die Akteure folgen einfachen und schlichten Mustern, die Schwierigkeit wird eher darüber geregelt, dass man besser keine Treffer abkriegen sollte, denn Adam Jensen stirbt schnell. Ein falscher Schritt, etwa im Polizeirevier, und die Hölle bricht los. Man hält zwar eine Weile durch, aber der Druck ist extrem hoch. Spielt man auf dem hohen Schwierigkeitsgrad, ist die Überlebenschance bei so einer Aktion gleich Null. Da helfen auch die filigran zusammengebauten Waffen nicht, die man sich aus Matrixen und Items basteln darf.
Die Grafik ist zwar nicht der Hammer, rein technisch und faktisch betrachtet, aber sie funktioniert gut und hat einen eigenen, einen konsistenten Stil. Die Zwischensequenzen sind mir persönlich etwas zu matschig im Vergleich zum Spiel, aber toll inszeniert, wenn auch stets ein bisschen zu dunkel wie das gesamte Spiel. Richtig tragisch sind Elemente wie graue Schuhkartons als Zukunftsautos und generisch ausschauende Flure in Hochhäusern.
Der Ton des Spiels ist trotzdem toll. Blade Runner trifft auf Neuromancer, eine cool erzählte Geschichte. Wer will, findet in zahlreich herumliegenden E-Books und sich aktualisierenden Holo-Zeitungen viel, viel Hintergrund. Hacker, die Terroristen fernsteuern, die sich per High-Speed-Port am Kopf über Proxy-Menschen in Netzwerke einklinken. Der große Propagandakrieg zwischen William Taggert und David Sarif ist eine ambitioniert erzählte Sci-Fi-Story, in der selbst Nebenmissionen viele Stunden dauern können, wenn man nicht mit der Brechstange unterwegs ist. Für ganz harte Spieler gibt es Achievements wie das gesamte Spiel zu absolvieren, ohne Alarme auszulösen oder jemanden umzubringen.
Was Deus Ex: Human Revolution für mich zum echten Spaß macht, ist die Freiheit der Entscheidungen. Man wird in zwei Durchgängen zwei völlig unterschiedliche Spielerlebnisse haben und trotzdem ein und dieselbe Geschichte erleben, aber mit starken inhaltlichen Schwankungen. Das ist stark gemacht, wird aber von einigen unverständlichen Lieblosigkeiten überlagert. Darum ist es am Ende nur eine 8/10, die vor allem Action-Rollenspiel- und Sci-Fi-Fans aber absolut als Einladung verstehen sollten.