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Harveys neue Augen

Harveys neue Augen

Daedalic nennt das Spiel gern einen Spinoff zu Edna bricht aus, aber wer das Abenteuer in seiner Gesamtheit betrachtet, darf es schon gern auch als Nachfolger betrachten. Abgedrehte Charaktere und absonderlicher Schauplätze gibt es hier zumindest auch - nur die Heldin ist diesmal so ganz anders, nämlich schüchtern und still.

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Die kleine Lilli lässt sich rumschubsen, schikanieren und dazu noch demütigen. Trotzdem gewinnt sie allem immer etwas Gutes ab. Einige halten sie wohl einfach für naiv, andere entdecken vielleicht die wunderbar verträumten, ja geradezu beneidenswerten Facetten an ihr. Denn die Welt so unbedarft und zuversichtlich zu sehen, dass gelingt wahrscheinlich den Wenigsten. Wir würden nicht so gelassen auf Situationen reagieren, welche der scheinbar braven Klosterschülerin so widerfahren. Doch alles perlt auch an Lilli nicht ab. In ihr drin, da brodelt etwas, das wir in kleinen Auszügen immer wieder mal erleben dürfen. Gerade zu schockierend, tiefschwarz wirkt der Humor an diesen Stellen. Und kontrastreich werden diese Auswüchse mit ein wenig rosa Farbe einfach weggestrichen. Denn eins ist klar, wer Lilli das Herz bricht, dem bricht sie die Beine.

Nun dreht sich die Handlung von Harveys neue Augen zwar explizit um das kleine, blonde Mädchen, aber die Wurzeln hat der Titel natürlich trotzdem im ausgezeichneten Vorgänger Edna bricht aus. Wir treffen ein paar der alten Bekannten - allen voran die laute, wahnsinnige Edna und natürlich den Namensgeber Harvey. Der blaue Stoffhase wird von - Achtung, noch eine vertraute Person - Dr. Marcel bei seiner neuen Methode zur Charakterkorrektur als Hypnosewerkzeug missbraucht. Mit glühend-roten Augen soll er alle Kinder der Welt zu willenlosen, gehorsamen Marionetten machen. Der Hass des Doktors sitzt tief und ist auf die Ereignisse im letzten Spiel zurückzuführen. Und ganz ohne Anekdoten kommt Daedalic natürlich an dieser Stelle nicht aus. Aber auch Vorwissen lässt sich das Abenteuer problemlos genießen.

Harveys neue Augen
Sie ist lieb und brav, aber unter ihrer Schale ist die kleine Lilli gar nicht so unschuldig - daraus entfaltet sich der fantastische Humor.

Los geht es in der Klosterschule. Hier herrscht die Oberin mit eiserner Knute. Sie hegt eine Aversion gegen die kleinen, ungezogenen Gören und besonders Lilli ist ihr ein Dorn im Auge. Alles, was sie anfässt, scheint in einer Katastrophe zu enden. Und auch die meisten ihrer Mitschüler halten sie für seltsam und merkwürdig. Was wir allerdings, um zwei herauszupicken, "Shibuyas" halten, welche absonderliche Worte von sich geben wie beispielsweise "Kriegerinnen des Lichts sehen mit der Kraft der Liebe" oder "Myurushi Glitzerschein"!? Nein, das sprechen wir lieber nicht laut aus. In jedem Fall ist die Mischung aus Sailor Moon, Power Rangers, Blumenkindern und autonomen Linksradikalen keine, mit der wir näher befreundet sein wollen, selbst wenn sie die einzig Verbliebenen auf der ganzen Welt wären. Und ein bisschen scheint Lilli das auch so zu sehen, denn völlig Verbergen kann sie ihre Abneigung trotz der Introvertiertheit doch nicht.

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Dann wäre da etwa noch Doris, die Katinenfrau. Sie schaut mächtig gefährlich aus und muss zehn Einweggläser am Tag öffnen, damit sie nicht aus Versehen mal kleine Kinderbeinchen bricht. Ihre Brachialromantik ist eine wahre Wonne und Ähnlichkeiten mit so manchem Drachen in den Kantinen da draußen sind mit Sicherheit nur zufällig. Ein Charakter, der sich ebenfalls ins Herz brennt ist die Streberin Birgit. Selbst beim Erzähler erfreut sie sich einer ausufernden Beliebtheit, so dass sie sich ein paar der bissigsten Kommentare redlich verdient hat. Und das hat schon etwas zu bedeuten, denn immerhin ist er fast die wichtigste Person im Spiel - unsere Verbindung zu Lilli. Er kommentiert Situationen und deutet sehr phantasievoll an, was die Kleine gerade so denkt. Dabei grenzt seine Ironie schon fast an Zynismus, wenn er etwa freudig bemerkt: "Shawny ging es schon viel besser. Man merkte es daran, wie sich seine Pupillen nach innen verdrehten."

Lilli wird uns mit jeder Szene sympathischer und das obwohl sie im Grunde ja nichts sagt. Jeden Satz, den sie beginnt, kann sie nicht zu Ende bringen, weil ihr Gesprächspartner sie unterbricht. Das ganze Spiel über hören wir nur wenige Laute und Bruchstücke von Worten. Und es ist tatsächlich durchweg gelungen, ohne dass dies aufgesetzt oder nervig wirkt. Als stilles Mädchen lernen wir Lilli kennen und damit arrangieren wir uns. Da ist es eher verwunderlich, warum sie sich doch gegen die ihr auferlegten Regeln zur Wehr setzt, die vor allem das zweite der drei Kapitel bestimmen. Du sollst keine spitzen Gegenstände benutzen, dich von gefährlichen Orten fern halten, Erwachsenen nicht widersprechen und fünf weitere Gebote werden Lilli eingetrichtert und begrenzen ihren Aktionsradius.

Harveys neue Augen
Harvey sorgt mit Hypnose dafür, dass Lilli sich an gewisse Regeln halten muss oder versuchen sollte, sie mit Logik zu brechen.

Wenn Lilli etwa verboten wird, mit Feuer zu spielen, sie aber eine brennende Fakel braucht, um eine geheime Tür zu öffnen, muss sie versuchen diese Regel zu brechen. Dafür versetzt sie sich in einen Trance-Zustand und bekämpft in ihrem Kopf die entsprechende Barriere. Diese Traumwelten sind wunderbar absurde Orte, an denen ganz eigene Regeln herrschen. Lilli muss zunächst die Figur finden, welche für das Verbot verantwortlich ist und sie dann mit einer verqueren Logik dazu zwingen, sich selbst zu widersprechen. Denn manchmal ist es schließlich auch gut, wenn man die Regeln der Erwachsenen bricht. Und ob Kinder wirklich lieber auf Rolf Zuckowski-Konzerten sind, als draußen durch die Nacht zu stromern, das wollen wir zumindest einfach nicht wahrhaben.

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Harveys neue Augen besitzt wirklich ein paar fantastische Momente und unglaublich viele gut pointierte Lacher. Das Spektrum reicht von trockenen, bitterbösen Witzen bis hin zu nerdigen Bemerkungen, die durchaus auch mal ein wenig Insiderwissen voraussetzen. Und auch die Spielebranche nehmen die Entwickler immer mal wieder auf die Schnippe. Das Harveys neue Augen dabei technisch vielleicht nicht voll auf der Höhe ist, stört bei den wunderschön gezeichneten Figuren und Schauplätzen nicht. Auch das nicht jede Animation ganz glatt abläuft ist nur Nebensache. Wichtiger ist doch, dass die Synchronsprecher fantastische Arbeit leisten, die Musik uns bewegt und das Spiel flüssig von der Hand geht. Und obwohl die meisten Elemente selbsterklärend sind, gibt es eindeutige Ausführungen. Und für fast alle Rätsel verraten uns Gesprächspartner kleine Hinweise, die bei der Lösung helfen, wenn wir mal festhängen.

Darüber, dass abgesehen von kleinen Spezialaufgaben aus spielerischer Sicht nur ein Standardprogramm abgespult wird, müssten wir eigentlich traurig sein. Und selbst diese Ausflüge sind keine echten Herausforderungen, weil ausgerechnet die einfach übersprungen werden können. Doch Harveys neue Augen will eigentlich auch gar nichts anderes. Die Entwickler sind stolz darauf, ein Adventure der alten Schule abzuliefern und im Rahmen dessen ist es großartig - ganz unabhängig vom hervorragenden Humor und den skurrilen Figuren. Als Gipfel der Verneigung vor dem Genre legten sie einen ganz besonderen Kopierschutz bei: Zwei Drehscheiben, bei denen wir die richtigen Figuren zusammensetzen müssen, um ein dann ablesbares Datum in eine Maske einzutragen - wie seinerzeit bei Monkey Island. Damit ist eigentlich alles gesagt. Und was die Moral von Lillis Geschichte über die Regeln der Erwachsenen betrifft. Nun ja, dass muss jeder selbst herausfinden...

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08 Gamereactor Deutschland
8 / 10
+
Neues von Edna, herrlich abgedrehte Charaktere, absurde Traumwelten, schöne Sprachausgabe in Deutsch, hübsche Zeichentrick-Optik, witzige Geschichte, wunderbarer Humor, Retro-Kopierschutz
-
wenig neue Ideen für das Genre
overall score
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