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Death Stranding

Death Stranding

Gamereactor verbindet sich mit Hideo Kojima und hilft Sam Porter Bridges dabei, hinter das Geheimnis des gestrandeten Todes zu gelangen.

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Die Farbe Blau fehlt dem umgedrehten Regenbogen. Es ist das Zeichen der gestrandeten Schrecken, die sich vor unseren Augen befinden und doch verborgen bleiben. Sie sind nur an giftigen Orten anzutreffen, schweben lautlos in der Luft und nehmen Geräusche und plötzliche Bewegungen wahr. Werden sie auf uns aufmerksam, bricht der Teer aus dem Erdboden hervor und die Toten kommen zum Vorschein. Diese Schatten greifen nach dem Leben und werfen ihre Opfer einem weitaus gefährlicheren Übel zum Fraß vor. Daraufhin folgt der Leeresturz - eine gewaltige Explosion, die alles und jeden im Wirkungsbereich aus dieser Welt tilgt. Nur ein Krater bleibt zurück und legt Zeugnis ab, da an dieser Stelle nie wieder etwas Lebendiges gedeiht.

Es hat eine Weile gedauert, bis mich Death Stranding hatte. Ein Bauer musste mir erst erklären, dass der sogenannte Zeitregen nicht nur schädlich ist, sondern auch dafür genutzt werden kann, Pflanzen schneller wachsen zu lassen. Sie machen sich dieses Verfahren zunutze, um den Ertrag ihrer Erntefelder drastisch zu erhöhen. Zeitregen ist mit einer speziellen Materie angereichertes Wasser, das organische Verbindungen, mit denen es in Kontakt kommt, schlagartig altern lässt. Die meisten Dinge frisst es langsam kaputt, doch sobald der Regen gefallen ist, verschwindet die zerstörerische Kraft der Zeit und zurück bleibt nur ganz normales Wasser.

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Wenn Sam durch den hochkonzentrierten Zeitregen läuft, sprießen unentwegt neue Pflanzen aus dem Boden, die binnen einer Sekunde welken und schließlich verdorren.
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Das neue Spiel von Hideo Kojima wollte erst gar nichts über sich preisgeben, dann konnte man sich vor Informationen und Spoilern kaum noch retten. Ein Strandspiel sollte es sein, es geht ums Verbinden von Menschen oder von Städten und wir sind Sam Porter, der durch die Gegend läuft und Pakete ausliefert. Selbst im Nachhinein macht diese Beschreibung nur wenig Sinn, dabei ist sie gleichzeitig die vielleicht treffendste Charakterisierung eines bis dato einzigartigen Spielerlebnisses.

In Death Stranding spielen wir Sam, einen Postboten, wenn ihr so wollt. Die Welt ist zerstört, deshalb tragen wir schwere Kisten durch die Gegend und müssen aufpassen, dass wir unsere Fracht nicht verlieren oder beschädigen. Stapeln wir die Ladung zu hoch, kippt der Turm und wir müssen manuell gegenlenken, um nicht zu stürzen. Weil der Sandkasten kein ebener Pfad, sondern eine zerklüftete Landmasse mit vielen Bergen, Flüssen und anderen Hindernissen ist, müssen wir aufpassen, wohin wir treten. Sonst stolpert Sam. Das alles mag nicht sonderlich spannend oder herausfordernd klingen, ergibt jedoch ein ziemlich einnehmendes Grundspiel, auf dem Kojima Productions einen der spannendsten Plots entfaltet, den ich in Videospielen bisher erlebt habe.

Death Stranding folgt komplexen Themenbereichen und präsentiert uns seine Story-Fetzen verschlüsselt und scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen. Sam muss im Alleingang durch ein Land reisen, das aus den Überresten der einstigen USA besteht. Er trägt ein Halsband bei sich, mit dem er verschiedene Computerterminals quasi ans Internet anschließt. Sein Ziel ist es, alle wichtigen Bereiche im ganzen Land ans Netz zu bringen, doch unterwegs stoßen wir auf viele Probleme. Manche Siedlungen wollen sich den Vereinigten Städten von Amerika (kurz UCA) nicht anschließen, ehe wir uns nicht um eines ihrer Probleme gekümmert haben. Deshalb müssen wir sie daran erinnern, dass man gemeinsam mehr erreicht, als allein.

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Fans von Kojima dürfen sich auf zahlreiche Überraschungen und Anspielungen freuen.

Was Death Stranding sehr gut macht ist, wie es uns an seine schwer greifbaren Themen und Figuren heranführt. Man muss sich Zeit nehmen, um sich in die verschiedenen Akteure und Themen hineinzudenken. Ich habe seitenweise Notizen zum Konzept des Strandes, den Brückenbabys, Chiralium, den verschiedenen Figuren und ihren Beziehungen zueinander erstellt - weil das alles vor allem im ersten Drittel ganz schön verzwickt ist. Es ist zwar keine Raketenwissenschaft, aber wenn Antimaterie und philosophische Modelle über das Leben nach dem Tod dazu benötigt werden, etwas zu erklären, dann ist es für einige vielleicht doch zu umständlich.

Kojima bedient sich einer eigenen Terminologie, die seine Spielwelt in einen mysteriösen Nebel einhüllt. Es dauert seine Zeit, bis man die anfänglichen Hürden überwunden und die eigentliche Geschichte ins Rollen gebracht hat. Das gewährt uns wiederum Zugriff auf Informationen, die zum Entwirren dieses Gedankenkonstrukts hilfreich sind. Jede Episode verrät uns mehr zu speziellen Figuren oder Themen und in E-Mails und transkribierten Interviews erfahrt ihr mehr über diese Welt. Diese Erzählweise ist vielleicht nicht jedermanns Fall, doch zumindest mir haben diese sorgfältig verstreuten Brotkrumen dabei geholfen, die Welt über weite Teile der Spielerfahrung interessant und frisch zu finden.

Während wir von A nach B laufen, begegnen wir neuen Hindernissen, etwa einem Fluss oder einem Berghang, die wir irgendwie passieren müssen. Vielleicht haben wir einen passenden Gegenstand dabei, der uns den Übergang ermöglicht, ansonsten müssen wir einfach drum herum laufen. Wenn wir eine Brücke bauen oder ein Seil befestigen, verankert sich dieses Objekt gleichzeitig in der Welt eines anderen Spielers und umgedreht. Auf unseren Reisen werden uns Fremde deshalb unweigerlich ihre Hilfe anbieten, wodurch unsere eigenen Anstrengungen hoffentlich gemindert werden. Was jemand bereits vor uns errichtet hat wird erst sichtbar, nachdem wir das chirale Netzwerk erweitert und einen der vielen Knotenpunkte erreicht haben. Das stellt sicher, dass auch neue Spieler vor der erdachten Herausforderung stehen, wenn sie später mit Death Stranding beginnen.

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Vielen Schauspielern gelingt es allein durch ihre pure Präsenz vor der Kamera, uns in ihren Bann zu ziehen.

Unterwegs werden wir sicher auch auf verlorenes Gepäck treffen, das wir mitnehmen und im nächsten Verteilerzentrum abgeben könnten - wenn wir eh gerade dahin auf dem Weg sind und noch Platz haben, versteht sich. Das Spiel belohnt die Initiative mit kleinen Verbesserungen für Sam und es hilft ihm beim Knüpfen von Banden, da die Leute über unsere Hilfe dankbar sind. Das ist vielleicht die stärkste Vereinfachung von Kojimas Spiel: Hilf anderen und verbinde sie dadurch mit dir. Das muss auch unser grummeliger Held lernen, der anfangs kein sonderlich zutraulicher Charakter ist.

Der Eigenbrötler lebt zurückgezogen, da ihn Menschen verletzen, falls sie ihn berühren. Kommt ihm jemand zu nahe, bleibt auf Sams Haut ein schmerzhaftes Ekzem zurück - verständlicherweise meidet er deshalb Gesellschaft. Natürlich gibt es noch weitere Gründe hinter diesem Verhalten, denn Sam ist eine tragische Figur und kann nicht sterben. Setzen seine Vitalzeichen aus, landen wir in einem speziellen Unterwasserbereich, über den wir wieder ins Reich der Lebenden gelangen. Gelingt uns das, wachen wir irgendwo ohnmächtig wieder auf und setzen unsere Reise fort. Natürlich hat das narrative Konsequenzen, die wir an dieser Stelle aber nicht vorwegnehmen wollen.

Weil Sam so besonders ist, schadet sein Blut den sogenannten GDs - so werden die schwebenden Schatten bezeichnet, die uns ins Reich der Toten ziehen wollen. Im Spielverlauf entwickeln die UCA verschiedene Waffen, die auf Grundlage unserer Körperausscheidungen für den Kampf mit den GDs eingesetzt werden. Während wir am Anfang nur machtlos und vorsichtig durch die verwitterten GD-Gebiete schleichen können, haben wir bald die Möglichkeit, uns einen Weg zu bahnen und sie aktiv zu bekämpfen. Da unser Blut als Ressource für den Kampf verwendet wird, müssen wir jedoch aufpassen, uns nicht zu viel davon abzuzapfen. Ansonsten besteht das Risiko einer Anämie, wodurch wir das Bewusstsein verlieren und in Ohnmacht fallen.

Zusätzlich zu diesen übernatürlichen Feinden werden wir Menschen begegnen, die den Verstand verloren haben. Die sogenannten Mules sind ehemalige Boten, die uns unterwegs unser Zeug klauen. Sie sind aufgrund einer Hormonstörung wohl davon besessen, Pakete zuzustellen und knüpfen uns unsere Ladung notfalls auch mit Gewalt ab. In ihren Lagern horten die Mules wertvolle Ressourcen und einige längst überfällige Pakete, die dringend an jemanden geliefert werden müssen. Auch wenn sie nerven, dürft ihr sie nicht töten. Denn wenn Menschen sterben, nekrotisieren sie, was wiederum GDs anlockt und somit einen Leeresturz herbeiführt. Mehr GDs führen zu mehr Leid, das können wir uns in Death Stranding nicht erlauben.

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In dieser Welt leben die Menschen in Isolation, weil das für sie am sichersten ist. Auch Sam folgte diesem Beispiel, bis er nicht ganz freiwillig damit begann, Amerika wiederzuvereinen.

Weil Kojima ein Faible für filmische Medien hat, ist Death Stranding nichts Geringeres als eine Augenweide. Zum einen überzeugen bekannte Hollywood-Schauspieler, wie Norman Reedus, Mads Mikkelsen, Léa Seydoux, Sarah Margaret Qualley, Tommie Earl Jenkins und Lindsay Wagner in ihren Rollen, nicht vergessen werden dürfen hierbei Troy Baker, Nicolas Winding Refn und Guillermo Del Toro. Sie alle glänzen in ebenso einnehmenden wie ausladenden Zwischensequenzen, in denen die Kamera an ihren Lippen hängt, während sie uns glaubhaft von der furchtbaren Dramatik des Lebens berichten.

Neben diesen hochkarätigen Figuren überzeugt Death Stranding aber auch auf audiovisueller Ebene. Die Decima-Engine erzeugt detailreiche Umgebungen, die insbesondere mit der Vielfalt ihrer Naturaufnahmen beeindruckt. Mit prachtvoll gestaltetem Moos auf verschiedenen Steinschichten habe ich mich zumindest erst in Death Stranding intensiver beschäftigt. Was die Engine neben schicken Blümchen und Physik-Spielereien noch kann, sind die erstaunlich soliden Kämpfe. Die werden dank der geladenen Fracht zwar schnell unübersichtlich, der Titel funktioniert als Shooter in den wenigen Actionsequenzen aber überaus souverän. Nur Treffer-Feedback gibt es quasi nicht, dafür den gewohnten Fan-Service, den man von Metal Gear Solid gewohnt ist. Jemanden ein Paket an den Kopf zu werfen, fühlt sich herrlich an, obwohl die Ladung dabei schweren Schaden nimmt.

Während der freien Bewegung hören wir häufig keine Hintergrundmusik, nur die Geräusche von Sam und seiner Fracht. Death Stranding braucht diese ständige Unterhaltung nicht, da es uns mit seiner einfachen Aufgabe bereits vollkommen einnimmt. Wenn wir bestimmte Orte in der Welt erreichen, wird zudem dynamisch ein Lizenztrack von verschiedenen Künstlern abgespielt, die unfassbar wirkungsvoll sind. Meist folgt eine solche Situation einer anstrengenden oder gefährlichen Stelle, wodurch ein bestimmtes Gefühl meisterhaft unterstrichen wird. Häufig ist es die Einsamkeit, mit der wir uns langsam und angestrengt durch diese feindselige Welt bewegen. Es ist aber nicht nur das, sondern auch Freude und echter Stolz über die Leistung, die hinter uns liegt.

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Mit leichtem Gepäck reist es sich leichter, doch Sam wählt in seinem Leben nicht den leichtesten Pfad.

In den letzten Wochen wurde ich von verschiedenen Stellen gefragt, was Death Stranding denn jetzt eigentlich sei und noch immer fällt mir die Antwort darauf schwer. Kojimas Strandspiel ist kein Survival-Game, nur weil unsere hergestellten Sachen im hohen Schnee in ihre Bestandteile zerfallen und wir das irgendwie verhindern müssen. Spielerisch hat mich am meisten das Sammeln von Ressourcen gereizt, die ich für den Aufbau des Netzwerkes gehortet habe, um anderen dabei zu helfen, schneller von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Die Gameplay-Systeme sind nicht neu, werden jedoch völlig anders ausgerichtet, was einen großer Teil der Faszination dieses Spiels ausmacht.

Das zweite Standbein dreht sich um die Entschlüsselung des großen Mysteriums, vorangetrieben durch cinematografische Einspieler und diese verdammt guten Schauspieler. Langsam zu verstehen, was der gestrandete Tod für die Menschen in dieser Welt bedeutet und was sie daraus machen, ist unheimlich und fesselt. Bis die verschiedenen Teile ineinanderfallen vergehen viele Stunden, in denen wir mit Sam grübeln und uns Gedanken machen, während wir durch die karge Wildnis stapfen und versuchen unseren nächsten Job zu planen. Doch wenn ein stimmiger Track von Silent Poets startet, während am Horizont unser Ziel ins Sichtfeld rückt, dann knüpft Death Stranding die Verbindung mit uns Spielern und wir werden eins mit ihm. Ich schätze, das ist genau das, was Kojima uns mit diesem Werk sagen wollte.

09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
Einzigartige Geschichte, vorgetragen von einer Reihe wahnsinnig talentierter Schauspieler. Starkes Skript, das langsam zusammenfällt. Experimentelles Spielgefühl mit soliden, bekannten Mechaniken. Audiovisuell eine Prachtleistung, Fan-Service.
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Wie bei allen Experimenten müssen sich die Spieler auf die Veränderung einlassen und ihre Konventionen ablegen. Gameplay könnte auf einige repetitiv und langweilig wirken.
overall score
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