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Virginia

Virginia

Ein Spiel, das die Grenze zwischen Kino und Videospiel weiter verschwimmen lässt - und ein tolles Erlebnis.

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Sofort als der Abspann rollt, lassen sich die Entwickler nicht groß Zeit damit, Thirty Flights of Loving von Blendo Games zu danken. Brendon Chungs von der Story vorangetriebenes Abenteuer hat ganz eindeutig das Debüt von Variable State inspiriert. Und zwar in mehrerlei Hinsicht - die cineastische Präsentation der kleinen Versatzstücke der Geschichte ohne jeden Text oder Sprache und dazu die nahezu fehlende physische Interaktion mit dem Spieler. TFoL war ein wichtiges Spiel, ein Wegbereiter auf ganz unterschiedliche Art und Weise - und Virginia baut auf diesen Ideen auf und das mit einem Stil, der es zu einem weiteren Wegbereiter macht, der die Grenze zwischen Kino und Videospiel weiter verschwimmen lässt.

Virginia wird sicher polarisieren, denn es gibt nur wenig bedeutsame Interaktion über den Controller (auch wenn das sehr elegant gelöst wurde und der Cursor so einem kleinen leuchtenden Kreis wird, wenn er auf etwas zum Interagieren zeigt und zu einem Diamanten, wenn wir nah genug sind, um es auszulösen). Der Großteil der Interaktion zwischen Spiel und Spieler entsteht in dessen Kopf und Variable State lässt uns genug Spielraum, selbst die Geschehnisse zu interpretieren. Was die Meinungen über das Spiel wohl noch weiter auseinander gehen lassen dürfte, denn es gibt keine konkrete Auflösung und die Entwickler haben mit voller Absicht das Ende sehr offen gestaltet.

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Virginia kommt ohne jeden gesprochenen Dialog aus und die Kommunikation zwischen den Figuren findet nur über Körpersprache und Gesten statt.
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Das ambitionierte Ende funktioniert dank der besonderen Art der Geschichte. Virginia ist mysteriöse Erzählung über zwei FBI-Agenten, die das Verschwinden eines Jungen in einer ländlichen Kleinstadt untersuchen. Natürlich geht es um viel mehr als eine einfache Detektivgeschichte, aber wir wollen hier natürlich nur so wenig Details wie möglich preisgeben. Die Ideen und die Atmosphäre stammen sowohl aus Videospielen als auch aus Filmen - und der unvermeidliche Kleinstadt-Vergleich mit Twins Peaks ist mehr als gerechtfertigt.

Virginia kommt ohne jeden gesprochenen Dialog aus und die Kommunikation zwischen den Figuren findet nur über Körpersprache und Gesten statt. Variable State gelingt es, eine ganze Reihe von Szenen so zu kommunizieren und destilliert komplexe emotionale Situationen in subtile und beeindruckende Momente. Eine Großteil der Atmosphäre wird durch musikalische Begleitung erzeugt, die zu den hervorstechendsten Merkmalen des Titels gehört. Die eleganten Arrangements setzen gerade bei Wendepunkten schöne Akzente. Man hat das Gefühl, die Musik reagiert und wird zu mehr als nur einem Hintergrundgeräusch. Und sie hat nicht selten Ähnlichkeit mit den Soundtracks von David Lynchs Haus- und Hofkomponisten Angelo Badalamenti. Die Musik wird geschickt eingesetzt, verstärkt so die Geschichte und lässt alles noch entrückter wirken.

Eine weitere Technik, die einen starken Effekt hat, ist der Schnitt. Die Kinoeinflüsse sind hier endgültig unübersehbar, die Szenen entwicklen sich durch gut durchdachte Schnitte. Schnell und clever gesetzt, beschleunigen sie auch unsere Reise von einem Ort zum nächsten. Das sieht nicht nur gut aus, sondern erlaubt den Entwicklern, das Erlebnis verhältnismäßig temporeich zu halten, auch wenn das Spiel insgesamt natürlich eher gemächlich bleibt - aber das Tempo stimmt einfach. In den cineastischen Szenen kann auch die Cel-Shading-Optik glänzen. Das etwas düstere Porträt des ländlichen Nord-Amerikas lebt von dem cleveren Einsatz von Farbe.

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Manche werden sich über einen Mangel an Interaktion und ein Gameplay beklagen, das wie auf Schienen abläuft.

Virginias Hauptfiguren sind beide weiblich (auch wenn wir die Geschichte nur aus der Sicht von einer von ihnen erleben), was leider selten genug vorkommt und nur beweist, wie viel Gedanken man sich hier über jede Facette des Spiels gemacht hat. Die Einflüsse sind offensichtlich, was aber nicht bedeutet, dass man keine überraschenden Momente erleben würde.

Man hat sich viele Gedanken gemacht, was dem Spieler direkt vermittelt und was nur angedeutet wird und Spielraum für Interpretationen lässt. Nichts steht fest und es ist erfrischend, wie viel Spielraum bleibt, die Geschichte im eigenen Kopf zusammenzusetzen. Auf der mechanischen Seite kann man sich als Spieler kaum autonom bewegen oder interagieren, aber das ist eben kein Trend, der sich in der Story fortsetzt. Wir werden Ereignissen ausgesetzt und dadurch wächst in uns das Verständnis über die mysteriösen Umstände. Natürlich wird ein so ambitioniertes Projekt und das Ungewisse sicher auch einige Spieler abschrecken.

Manche werden sich über einen Mangel an Interaktion und ein Gameplay beklagen, das wie auf Schienen abläuft. Aber das ist in Ordnung - kein Spiel kann alles für jeden sein. Virgina leiht sich seine Ideen gleichermaßen bei Filmen und Spielen - und das Ergebnis dürfte für gespaltene Meinungen sorgen. Ich persönlich bin damit glücklich. Virginia ist ein interessantes Erlebnis, das von einigen sehr cleveren Design-Entscheidungen getragen wird. Vielleicht könnte uns das Spiel etwas an die kürzere Leine nehmen, um uns zu den weniger offensichtlichen Versatzstücken der Geschichte zu führen. Aber insgesamt ist das schon erstaunlich großartig gelungen. Es ist ein seltsames, obskures und forderndes Stück interaktive Unterhaltung und gleichzeitig fesselnd, durchdacht und voller Herz. Man muss vielleicht nicht die ganze Zeit das Lenkrad fest im Griff haben, aber das bedeutet nicht, dass Virginia ein einfacher Trip wird.

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08 Gamereactor Deutschland
8 / 10
+
schöne Story, clevere Präsentation, wunderbarer Soundtrack
-
verliert manchmal den Fokus, streckenweise deutlich zu wenig Interaktion
overall score
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