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L.A. Noire

L.A. Noire

L.A. Noire, das ist momentan genau Bild in meinem Kopf, und es will nicht mehr weg. Meine Hand schwebt über einer bildhübschen Frau, genauer gesagt über dem, was von ihr übrig geblieben ist. Ich knie über einer Leiche in einem schmucklosen Hinterhof.

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Die junge Frau ist splitternackt und hat Schnittwunden im Gesicht und am ganzen Oberkörper - post mortem zugefügt, wie Gerichtsmediziner Malcom Carruthers erklärt. Ihr Schädel wurde eingeschlagen, das Gesicht ist mit Blutergüssen übersät. Vorsichtig wiege ich den Kopf hin und her. Es knackt leise, etwas Blut spritzt aus dem Hals. Dieser eingerissene Mundwinkel, das war doch bei dem letzten Opfer auch so?

Ein Knopfdruck später schwebt die Hand wieder über der gesamten Leiche. Mit dem Analogstick bewege ich sie zum rechten Arm der Toten und zoome mich hinein. Vorsichtig ziehe ich einen zur Hälfte zerrissenen Bibliotheken-Mitgliedsausweis aus ihren Fingern. Ich, das ist Cole Phelps, Kriegsveteran und seit neustem im Morddezernat tätig. Sie, das ist eine noch namenlose Tote, 21 Jahre jung. Ihr anderer Arm offenbart ein Hand mit abgebrochenen Fingernägeln. Der Schmuck ist geklaut, der Ehering wurde brutal vom Finger gerissen. Ich beende die Untersuchung fürs Erste.

L.A. Noire ist, das unterstreichen sie bei Rockstar immer wieder heute, ein Spiel für Erwachsene, auch wenn es relativ wenig mit den bisherigen Rockstar-Hits gemein hat. Es ist kein Sandbox-Game, kein offener Vergnügungspark wie es die letzten vier, fünf Grand Theft Auto-Teilen waren. Es ist eher eine Mischung aus Heavy Rain und Phoenix Wright: Ace Attorney, wo keine böse Szene ausgespart wird. Wie auch, wenn es zu großen Teilen um Gewaltverbrechen im Los Angeles des Jahres 1947 geht.

L.A. Noire
Phelps arbeitet sich an vermutlich knapp 20 Fällen ab - nicht alles Morde übrigens.
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Phelps arbeitet sich in seinen vermutlich knapp 20 Fällen - nicht alles Morde übrigens - gemeinsam mit Partner Rusty Galloway durch die Dezernate. Zuerst Verkehr, dann Sitte, Mord oder Brandstiftung - und immer zoffen sich die beiden amüsant an. Ein klassisches Duo. Jeder ihrer Fälle ist eine einzelne, in sich abgeschlossene Geschichte. Ein bisschen wie eine Folge CSI - und ähnlich lange dauert es auch. Wer alle Zeugen befragt und die Tatorte genau untersucht, wird sicher um die 45 bis 60 Minuten für einen Fall benötigen - Ablenkung exklusive.

Die oberflächlich wunderschön und detailverliebt gestaltete Stadt ist allerdings kein offener Spielplatz. Sie ist eher ein Schauplatz, den wir mit Spürsinn und Kombinationsgeschick erkunden. Die Welt ist frei befahrbar, aber die Interaktionsmöglichkeiten waren in der von uns gespielten PS3-Fassung eher eingeschränkt. Fahrzeuge lassen sich jederzeit ausleihen, ähnlich wie bei GTA, an das vor allem die Steuerung erinnert. Nur das man nicht klaut, sondern höflich fragt und die Polizeimarke hinhält. 96 verschiedene Autos sind im Spiel, darunter viele US-Schlitten, großvolumige Achtzylinder mit einem satten Sound. Das Fahrgefühl ist Rockstar-typisch etwas schwammig, trifft aber die Art, wie sich solche US-Straßenkreuzer eben fahren. Straßenlaternen, Zäune und andere Autos kapitulieren schnell vor dem vielen Blech, die Passanten sprangen in allen Fällen immer rechtzeitig aus dem Weg. Man sollte aber nicht zu viel kaputt machen, das ist schlecht für das Ranking am Ende des Falles.

Bereits bei seinem ersten Fall im Morddezernat kriegt Cole Phelps einen Fall, der offenkundig an einen Mord anschließt, der durch die Presse getrieben wurde. An den Fall Black Dahlia. Der bildet die Grundlage für die Story von L.A. Noire. Das 22-jährige Starlet Elizabeth Short wurde zweigeteilt und wüst verstümmelt am Straßenrand gefunden. Ein realer Fall übrigens - und der Mörder ist bis heute nicht gefunden. Diese Verknüpfung von Spiel und Realität trifft auch bei den anderen Fällen zu. Sie sind ebenfalls an echte Personen angelehnt oder sogar komplett übernommen.

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Phelps weiß nun den Namen der Toten aus seinem Fall: Antonia Maldonado.
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Phelps' Fall heißt Silk Stocking Murderer und führt uns auf einen schlichten Hinterhof in einem Industriegebiet von Los Angeles. Mitten im Hof liegt die Leiche, die eingangs beschrieben wurde. "Kiss the Blood. B.D." steht auf ihrem Bauch. Geschrieben vom Mörder, mit Lippenstift, blutrotem natürlich. Gelesen bei der Untersuchung vor Ort. Was genau man alles bei der Untersuchung mit einer Leiche machen kann, ist von Fall zu Fall verschieden. Der Schambereich wird im Detail immer ausgespart, aber die Brüste sind voll entblößt und auch Schamhaare sind zu sehen. So viel Nacktheit ist ungewöhnlich für ein Videospiel, zumal für eines aus dem prüdem Amerika.

Nachdem wir die Leiche genau untersucht haben, ist die Umgebung dran. Blutspuren weisen ziemlich offensichtlich den Weg zum nächsten Hinweis. Cole Phelps streift durch die kargen Hinterhöfe. Klettert flink eine Notleiter und Feuertreppe hoch, danach an einem Abflussrohr weiter aufs Dach. Flüssige Animationen, wenn auch die Bewegungen von Phelps immer wieder staksig, hektisch und artifiziell aussehen, ähnlich wie schon bei Heavy Rain. Oben auf dem Dach wartet dann der entscheidende Hinweis. Eine Handtasche mit dem zweiten Teil des Ausweises und einer Adresse, davor ein Eimer Blut und ein Lackierpinsel. Die Tote hat nun einen Namen: Antonia Maldonado.

Phelps und Galloway ziehen weiter. Der Wagen steht noch vor der Gasse zum Hof. Entweder fährt man nun selbst oder lässt Galloway fahren. Mit dem aus GTA bekannten Trip-Skip lassen sich die Fahrsequenzen abkürzen, was aber die interessanten und sauber geschriebenen Konversationen killt. Schade ist es an dieser Stelle sicherlich für einige, dass keine deutsche Synchronisation kommt. Es sind lediglich deutsche Untertitel geplant.

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Die Gesichtsanimationen sind erstklassig, nicht nur in den Zwischensequenzen, sondern vor allem in den Verhören.

Das nächste Ziel ist ein beschauliches, dreistöckiges Bed & Breakfast-Hotel. Im Erdgeschoss öffnet eine alte Jungfer namens Ms. Lapenti, die sofort ins Verhör vor den lodernden Kamin muss. Wir zücken den Notizblock, der nun den Bildschirm dominiert. Über ihn wird ein Großteil der inneren Logik des Spiels abgewickelt. Hier sammeln wir Zielpunkte innerhalb der Mission ebenso wie alle Hinweise, die gefunden oder erfragt wurden. Daraus ergibt sich für jedes Verhör ein Fragenkatalog, den wir abarbeiten müssen, die Reihenfolge ist dabei egal. Während des Verhörs kann man jederzeit vom Block aufblicken und in den Gesichtern der Delinquenten zu lesen versuchen.

Das bekommt eine erstaunlich Dimension, je länger man hinschaut. Zuckende Wimpern, zwinkernde Augen, nervöse Blicke, leicht unruhige Bewegungen und stoische Ruhe - all diese Nuancen haben sie bei Team Bondi mit der eigenen Motion Scan-Technologie eingefangen, ebenso wie die gesamte Körpersprache eines Verdächtigen. Über 300 Charaktere wurden so beängstigend real eingebunden ins Game. Ist eine Frage gestellt und die Antwort gegeben, bleiben drei Option für uns, drei Tasten zum Drücken: Wahrheit, Lüge, Zweifel. Wir können gesammelte Beweise nutzen, um Lügen oder Unstimmigkeiten zu enttarnen. Die Wahl der Antwort beeinflusst unumkehrbar den weiteren Gesprächsverlauf ebenso wie die Ausbeute an zusätzlichen Informationen und das Ranking am Ende eines Falles.

Ms. Lapenti ist jedenfalls sehr nervös und das sieht man ihr an. Wer sich unsicher ist, kann jetzt Intuitionspunkte nutzen. Die gibt‘s als Belohnung für Entdeckungen, erfolgreiche Verhöre und den Aufstieg innerhalb des Rangsystems (das übrigens auch neue Outfits für Cole freischaltet). Mit den Intuitionspunkte werden die Verhöre erleichtert, sie sind aber auch live an Schauplätzen einsetzbar. Bis zu fünf dieser Punkte kann Cole sammeln. Per Knopfdruck zeigen uns dann kurz aufblinkende Lupen in der Mini-Map die fehlenden Hinweise. Zwei dezente Klaviertöne tun das auch, ebenso wie das Ruckeln des Controllers. Ganz ehrlich: Das macht es zu einfach, selbst für Gelegenheitsspieler. Ein fehlender Hintergrundsound dagegen signalisiert, dass an einem Ort alles erkundet ist. Sonst läuft dort ein dezent atmosphärischer Soundtrack, viel ruhiger Jazz und Swing, stilsicher wie immer ausgewählt von Rockstar.

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Verfolgungsjagd im Auto, als Teil der Mission: Wir müssen den Flüchtigen entweder von unserem Partner abballern lassen oder von der Straße drängen.

Derzeit gibt's einen Officer- und Detective-Schwierigkeitgrad, ob das im finalen Spiel so sein wird, ist noch unklar, aber wohl eher unwahrscheinlich. Entwickler Team Bondi doktert derzeit noch dran herum, wie stark sie bei den Fällen helfen wollen. Was auf jeden Fall kommt, sind Social Club-Updates. Die haben eine eigene Seite im Notizbuch und man kann in der Rockstar-Community Hilfe anfordern für alle "aussichtslosen" Fälle.

Die renitente Alte rückt jedenfalls ein paar wertvolle Informationen raus. Nun stehen wir vor einer Entscheidung: In die Bar, wo die Tote ihren Eheman Angel abservieren wollte oder zu dessen Appartement. Wir fahren zu Angel. Und Galloway will nicht lang fackeln. Er tritt die Tür ein und sofort startet eine Action-Prügelei im Third-Person-Modus. Schlagen, Blocken, den Gegner packen oder ausweichen und Counter-Attacken anbringen. Jesus und sein Freund sind schnell ausgeknockt mit einem bösen Finisher und haben nicht viel dafür getan, sich unverdächtig zu verhalten.

Es geht zurück ins Polizeihauptquartier. Wobei, man könnte auch noch schnell in der El Dorado-Bar vorbei schauen, um zusätzliche Informationen zu sammeln. Auf der Wache wird der Hitzkopf Angel verhört, der uns Hinweise auf einen Früchtehändler liefert, der vielleicht etwas mit dem Mord an seiner Frau zu tun hat. Als wir den Mann namens Clem Feeney einige Zeit später in seinem Geschäft verhören, bringt das keine Neuigkeiten. Wohl aber das anschließende Schnüffeln im Markt, das neben literweise illegalen Schnaps auch ein Schmuckstück offenbart, das der Toten gehört.

Als Feeney uns dabei beobachtet, flüchtet er. Das resultiert umgehend in einer Verfolgungsjagd im Auto, als Teil der Mission. Wir müssen den Flüchtigen entweder von unserem Partner abballern lassen oder von der Straße drängen. Das fühlt sich ziemlich so an wie jede beliebige Fahrt in GTA oder Mafia II, nicht herausstechend jedenfalls. Neben den Rennen und Faustkämpfen wird noch andere Actionsequenzen geben, Details dazu verrät Rockstar noch nicht, Schießereien sind aber sicher dabei.

Als wir Clem stellen, endet die Mission. Als Belohnung gibt‘s ein Ranking: 15 von 16 Hinweisen gefunden, 10 von 13 Fragen mit einer richtigen Antwort beantwortet bekommen, für 2212 US-Dollar Schaden verursacht (die Sache mit dem fetten V8, der Laterne und dem Vorgarten war sicher teuer, die Massenkarambolage auf der Kreuzung auch). Aber: Keine Verletzten und nur zehn Vergehen registriert. Das war gut für vier von sechs möglichen Sternen.

Ist Clem nun der Mörder? Vielleicht. Ist L.A. Noire ein spannendes Spiel? Vielleicht? Wirklich schwer zu sagen. Ihm fehlt nicht der Rockstar-Charme, nicht die Liebe zum Detail. Es ist, fürchte ich und obwohl ich genau das mag, einfach ein bisschen langsam, langatmig und bisweilen leer. Was nutzen wunderschöne Straßenzüge ohne viel Leben? Das Spiel indes lebt von anderen Dingen, von der Nähe zu den wirklich fantastisch gemachten Charakteren und ihren Gesichtern. Sollte es wesentlich mehr Action verpasst kriegen, wird es nur irgend etwas Halbgares zwischen Mafia II und GTA IV werden.

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KRITIK. Von Petter Hegevall

L.A. Noire ist ein Spiel für Erwachsene und das Rockstar-Abenteuer zeigt einige wirklich interessante Designlösungen.



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