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Mafia II

Mafia II

Acht Jahre sind seit Mafia vergangen. Nun liefert 2K Czech eine technisch nahezu vollkommene Fortsetzung ab. Die Technik ist aber gar nicht so wichtig. Wirklich bahnbrechend sind die Dramaturgie und Charakterzeichnung in Mafia II - einem Spiel zum sich darin verlieren, wie es bisher nur mit Kinofilmen und Romanen möglich war. Wir haben die Xbox-Version gespielt.

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Soviel vorweg: Dieses Spiel berührt, lässt Augen leuchten, macht Gänsehaut, geht unter die Haut - alle denkbaren Plattitüden und Superlative, die sich in einer gelungenen Videospielkritik eigentlich verbieten, treffen im Fall von Mafia II ins Schwarze.

Wie hat 2K Czech bloß diese fesselnde Wirkung seines lange erwarteten Titels erreicht? Durch die atmosphärisch gelungene Szenerie eines lebendigen Empire Bay City um 1950? Durch die Detailverliebtheit bei Waffen, Autos, Kleidung, Frauen? Durch das fast mackenfreie, flüssige Gameplay? Die Antwort ist: ja und nein! Das alles trägt zu einer beinahe vollkommenen Spielerfahrung bei - aber getragen wird Mafia II von der Tiefe seiner Charaktere und der filmischen Dichte der Geschichte, die sie erleben.

Man kennt das seltene Gefühl, sich in einer fiktiven Story komplett verloren zu haben, am ehesten aus dem Kino. Wenn die Leinwand am Ende schwarz wird und für ein paar Minuten die dramatische Frage zurücklässt: Wie soll man nur weitermachen ohne die Menschen, deren Leben man gerade noch begleitet hat? Aber im Kino gingen dieser Frage höchstens zwei Stunden Fiktion voraus, nur kurze Ausschnitte aus dem Leben der anderen. Deswegen wird der Vergleich Mafia II nicht wirklich gerecht. Die Einblicke, die uns 2K Czech in den Alltag, die heiklen Momente und das Seelenleben von Vito Scaletta gewährt, sind tief. Das passt in keinen Film, das hat schon eher das Ausmaß eines Romans.

Der Italo-Amerikaner Vito ist im italienischen Quartier von Empire Bay City, einer fiktiven Großstadt an der Ostküste, groß geworden. Wie die meisten Einwanderer seiner Generation dient er seinem Land ergeben im Kampf gegen die Nazis, Mussolini genauer gesagt. Hier beginnt Mafia II, seine Geschichte zu erzählen: Der Marktplatz einer italienischen Stadt, Vito und seine Einheit eingekesselt vom Feind, Vito kämpft loyal gegen die braunen Landsmänner. Die Szene dient gewissermaßen als Tutorial, sie führt in die Kampfsteuerung ein: Deckung, Zielen, Waffen einsammeln. Sofort ist klar, dass die Steuerung leicht von der Hand geht, präzise und gar nicht mühsam. Das Spiel sagt: Halte Dich nicht mit dem Nachdenken über die Steuerung auf, wir haben hier eine Geschichte zu erzählen.

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Mafia II
Vito Scaletta am Anfang seiner kriminellen Karriere. Er weiß, worauf er sich einlässt - aber er kann nicht anders, es geht doch um die Familie.

8. Februar 1945: Vito bekommt Heimaturlaub. Zurück in Empire Bay stellt er schnell fest, dass der Krieg auch weit entfernt von der Front seine Spuren hinterlässt: Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die Rüstung, der Rest muss warten. Sein Viertel ist runtergekommen, die Menschen auf den Straßen sehen zielstrebig aus - aber sie sind nur auf einer gehetzten Suche nach dem nächsten Job, der sie und ihre Familien über den Tag bringt. Die Schneedecke in der winterlichen Stadt transportiert das Gefühl sehr gut: Sie strahlt Gelassenheit aus, weil sie alle Geräusche dämpft, den Verkehr auf der Straße verlangsamt. Aber im Augenwinkel sieht man immer wieder Leute ausrutschen und stürzen. Die schneeweiße Kulisse trügt - hier ist nichts mehr in Ordnung.

Vitos Vater ist gestorben und hat einen Schuldenberg hinterlassen. Die Gläubiger sitzen seiner Mutter im Nacken. Vitos bildschöne Schwester "Frankie" steckt dadurch auch in handfesten Schwierigkeiten. Und Vito ist nun der Patrone der Familie, der sie beschützen muss und will. Da wirkt es wie pures Glück, dass Cousin Joe Barbaro sich des Protagonisten annimmt und seinen Heimaturlaub mit einem simplen Telefonanruf zum Daueraufenthalt verlängert. Dass das der Moment ist, in dem Vitos kriminelle Karriere beginnt, ist uns klar. Vito wird es auch wissen - aber er kann gar nicht anders, es geht doch um die Familie.

Mafia II
Empire Bay City verändert im Verlauf des Spiels sein Gesicht. Die Stadt strahlt Gelassenheit aus - doch die Kulisse trügt: Hier ist nichts in Ordnung.
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Ab hier steht Vito in der Schuld seines Cousins, das erste Auto wird geknackt, die erste Flucht vor der Polizeistreife folgt auf dem Fuß, bald hält Vito die erste glänzende Knarre in der Hand - und bald benutzt er sie auch zum ersten Mal. Die Aufträge, die er in den folgenden Kapiteln, mal mit und mal ohne Joe, für das dringend gebrauchte Geld erledigt, werden immer größer und immer gefährlicher. Am Ende wird der kleine Italiener eine große Nummer in der Mafia-Hierarchie sein. Kaltschnäuzig und brutal. Loyalität und Freundschaft wird auf die Probe gestellt und verraten werden. Für den Spieler schlägt sich das in steigender Herzfrequenz nieder.

Aber es wäre falsch zu sagen, dass er sich aktiv hocharbeitet. Er wird eher mitgeschleift, es ist die alternativlose Evolution eines Gangsters, dem man von Anfang ein gutes Herz, Umsichtigkeit und Gerechtigkeitssinn zugetraut hatte. Diese Dramaturgie ist natürlich nicht neu - sie ist eigentlich sogar altbekannt: aus dem Kino des Martin Scorsese. Aber in einem Videospiel ist die Qualität der Charakterzeichnung durchaus eine Premiere. Als die Entwickler im Vorfeld darüber sprachen, wie hart es gewesen sei, menschliche, glaubwürdige Charakter mit Herz, Hirn und Tiefe zu kreieren, haben sie nicht übertrieben.

Mafia II
Die Aufträge, die Vito für das dringend gebrauchte Geld erledigt, werden immer gefährlicher. Für den Spieler schlägt sich das in steigender Herzfrequenz nieder.

Ohne Frage können fein gezeichnete Charaktere nur in einer Umgebung funktionieren, die mehr ist als bloße tote Kulisse. 2K Czech hat auch das verstanden. Die langen Jahre der Entwicklung haben sie auch in die Details von Empire Bay und seines Inventars investiert. Wenn man im gestohlenen Cabrio durch die Viertel der Stadt cruist, sieht das genauso realistisch aus wie eine 50er-Jahre-Version von Google Street View. Oder zumindest so wie unser gängiges Klischee der amerikanischen Großstadt zu dieser Zeit. Aus dem Autoradio dringt als Soundtrack zur Stadt aus mehreren Sendern Swing, unterbrochen von Nachrichten von der europäischen Front. Wenn mal nicht drei Polizeistreifen hinter einem her sind, kostet man das gerne aus. Die präzise Steuerung, die abhängig vom fahrbaren Untersatz wunderbar variiert, trägt zum guten Fahrgefühl der Fluchtautos bei. Die Feinheiten wie der Schnee, der beim ersten Gas geben vom Dach rutscht, tun ihr Übriges.

Fast ebenso schön ist es, zu Fuß unterwegs zu sein, weil Vito im Vorbeigehen mit manchem Passanten small talken kann (wenngleich sich andere wortlos von ihm herumschubsen lassen). Aber auch das Zuhören kann sich lohnen. Meine Lieblings-Unterhaltung zwischen zwei Fußgängern beginnt mit dem sorgenvollen Blick in den Schneehimmel und endet mit der Bemerkung: "Sie sagen, das ist eine globale Kältewelle - was kommt als nächstes, globale Erwärmung?!" Mafia II hat den Humor aus seinem Vorgänger herübergerettet, setzt ihn aber viel subtiler ein.

Mafia II
Die präzise Steuerung trägt zum Fahrgefühl bei. Aus dem Autoradio dringen als Soundtrack zur Stadt und Zeit aus mehreren Sendern Swing und Nachrichten von der Front.

Vitos Sinn für Stil beschränkt sich nicht nur auf Autos, dafür sind die Shopping-Optionen in Empire Bay auch zu verlockend. In den Boutiquen ersteht Vito Anzüge und Hüte - er trägt sein jeweiliges Karrierelevel gewissermaßen nach außen. Neu eingekleidet geht er in die nächste Bar - aber mit dem Alkohol ist Vorsicht geboten, zuviel davon führt zu einem verblassten, zittrigen Sichtfeld und Zeitlupen-Wahrnehmung.

Man kann sich natürlich das ziellose Streunen durch die Lokale und Seitengassen ersparen - bringt sich dadurch aber um einen großen Teil des Spaßes. Mafia II erlaubt ziemlich viel Sandbox-Spiel abseits der Haupthandlung. Und ist dabei so abwechslungsreich, dass der Eindruck, man begleite Vito wirklich rund um die Uhr in seinem Alltag, noch verstärkt wird. Zudem streckt die Streunerei zwischen den Missionen die Netto-Spieldauer - denn die ist etwas kurz geraten. Wegen der durchgehenden Intensität des Spiels geht das aber in Ordnung.

Mafia II
Ergeben, fliehen und erschossen werden oder ein Bestechungsversuch? Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, mit der Polizei zurecht zu kommen.

Überhaupt kommen die Schwachpunkte des Spiels nicht über den Grad von Schönheitsfehlern hinaus, so sehr man auch sucht: Wenn hier und da eine Textur verschwimmt, wenn manchmal dieselben Passanten mit denselben Worten kurz nacheinander auftauchen - na gut. Was technisch überwiegt ist ein absolut stabil laufendes Spiel mit fast perfekter Kamera, eine astreine Steuerung und die filmische Grafik, ganz besonders in den Zwischensequenzen. Die PS3-Version muss in Sachen Grafik offenbar ein paar Abstriche hinnehmen, selbst gespielt haben wir die nicht. Auf dem PC der Oberklasse sieht das Game naturgemäß noch eine Spur besser aus.

Wichtiger aber ist etwas anderes: Mafia II verwischt im Hinblick auf Story- und Figurenzeichnung die Grenze zwischen Videospiel und Film. Dass dies in dieser Intensität erstmals mit einem Spiel aus dem Mafia-Genre gelingt, das auf der Leinwand seit Jahrzehnten für die anspruchsvollsten, zerrissenen und vielschichtigsten Charaktere steht, ist schon allein eine Auszeichnung.

09 Gamereactor Deutschland
9 / 10
+
Bahnbrechende Charaktertiefe, Dialoge mit toller Dramaturgie, präzise Steuerung von Autos und Waffen, authentische 50er-Jahre-Atmosphäre
-
Etwas zu kurz geraten, einzelne verschwommene Texturen, Vito kann nicht schwimmen
overall score
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